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Inselgeschichten: Essen im Spital
Man ist, was man isst. Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Doch tatsächlich sieht die Medizin seit Jahrhunderten in der Ernährung einen Schlüssel für Gesundheit und Wohlbefinden. Was kommt im Inselspital im Verlauf seiner Geschichte auf den Tisch, wer bestimmt es und wer bereitet es zu? Ernährungsberaterin Anna-Barbara Sterchi wirft einen Blick auf die Geschichte der Ernährung, der Diätetik und der Ernährungsberatung. Speisen, Trank und Gesundheit Schon in der Antike gilt die richtige Ernährung als wichtiger Bestandteil eines gesunden Lebens. Der griechische Arzt Galen zählt die Nahrungsmittel im zweiten Jahrhundert nach Christus zu den sogenannten «sex res non naturales». Neben Luft und Licht, Bewegung und Ruhe, Schlaf und Wachsein, Ausscheidungen sowie der Anregung des Gemüts gelten sie als zentrale Faktoren für ein ausgewogenes Säftegleichgewicht – und damit für die Gesundheit. Auch bei Krankheit bleibt die Zufuhr geeigneter Nahrung ein entscheidender Hebel, um das Gleichgewicht der Säfte wiederherzustellen. Die Ärzte des Mittelalters und der frühen Neuzeit berufen sich auf die Schriften Galens und sind daher immer auch «Ernährungstherapeuten». Darstellung der vier Säfte im 16. Jahrhundert: Blut, gelbe Galle, schwarze Galle und Schleim, Illustration von Leonhartds Thurneisser «Quinta Essentia», 1574 (Quelle: Wikimedia Commons) Ernährung im Inselspital der Frühen Neuzeit Wie sieht es im Inselspital der Frühen Neuzeit aus? Die Speiseordnung von 1643 erlaubt Einblicke in die Ernährung am alten Inselspital. Bewohner des Spitals erhalten nur zwei Mahlzeiten pro Tag. An den vier sogenannten «Mustagen» gibt es morgens ein frisches Mus und dazu gerösteten oder gekochten Haferbrei. Abends stehen Kraut, Schnitz und Rüben auf dem Speiseplan. An den drei Fleischtagen findet sich Fleisch in der Suppe. Täglich gibt es zudem Brot. Doch es gibt immer wieder Ausnahmen – vor allem mit Blick auf die Gesundheit. Patient:innen, die sich von einer Operation oder einer akuten Erkrankung erholen, erhalten zur Stärkung «ein Fleischsüppli samt einem Bitzen Fleisch oder Weinwarm [eine Art Weinsuppe]». Ebenfalls fester Bestandteil des Speiseplans ist Wein – ein Patient erhält täglich «ein Vierteli». Als weiteres Getränk steht «Ptisana», eine Gerstenabkochung, zur Verfügung. Diese schleimige Grütze gilt seit der Antike als leicht verdaulich und wird auch als Heilmittel eingesetzt. Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit – das ist ein entscheidender Unterschied zu heute – ist das Inselspital jedoch kein eigentliches Krankenhaus, sondern eine Institution, die Menschen mit unterschiedlichsten Bedürfnissen aufnimmt. Es gibt Krankenzimmer für «arme Kranke», wie es die Stifterin Anna Seiler vorsieht, doch auch vermögende «Pfründer» kaufen sich ein, um ihre Altersvorsorge zu sichern. Die Zusammensetzung der Insel-Speisekarte orientiert sich daher weniger an medizinischen Überlegungen als vielmehr daran, die Bewohner satt zu machen. Im frühen 18. Jahrhundert wird der Speiseplan überarbeitet: Täglich erhalten die Inselbewohner:innen nun ein Pfund Brot und ein Pfund Fleisch. Geschwächte Patient:innen bekommen zusätzlich Obst, Gemüse, Milch und Eier sowie Brei oder Bouillon. Auch Wein bleibt bis Ende des 18. Jahrhunderts ein tägliches Genussmittel. Seit dem späten 14. Jahrhundert besitzt das Inselspital Reben im Altenberg. Im Laufe der Zeit kommen weitere Weinberge dazu, darunter das Rebgut in Tschugg. Die Gebäude des Inselspitals um 1600 (Quelle: Staatsarchiv Bern, Insel II 5181) Die Verwissenschaftlichung der Ernährung Im 19. Jahrhundert entwickelt sich das Inselspital zu einem eigentlichen Krankenhaus. Auch die Medizin wandelt sich grundlegend. Sie beruht nun auf naturwissenschaftlicher Grundlagenforschung. Die auf die Antike zurückgehende Viersäftelehre und damit auch die «sex res non naturales» verlieren an Bedeutung. Der Blick auf die Ernährung wird zunehmend von der naturwissenschaftlichen Forschung geprägt. Chemiker und Physiologen denken den menschlichen Körper als thermodynamische Maschine, zerlegen Lebensmittel in einzelne Nährstoffe und führen Ende des 19. Jahrhunderts die Masseinheit «Kalorie» ein, um Nahrung exakt zu quantifizieren. Vor diesem Hintergrund verändert sich die Krankenhauskost. Es entstehen auch im Inselspital verschiedene Kostarten, und die Ärzte können zusätzliche Nahrungsmittel verordnen. Im frühen 20. Jahrhundert bereiten in der Zentralküche des Inselspitals unter der Leitung der «Haushaltsschwester» drei Köchinnen die regulären Mahlzeiten und die Diätkost zu. Lebensmitttelwaage, um 1900 (Medizinsammlung Inselspital Bern, Inv.-Nr. 14704) Neue Berufsfelder In den 1920er Jahren setzt eine Professionalisierung ein und es bilden sich neue Berufsbilder heraus. In den USA und in Deutschland entstehen «Diätschulen», die Fachpersonal für eine wissenschaftlich begründete Ernährung ausbilden. Ab 1930 setzen sich diese neuen Berufszweige auch in der Schweiz durch: «Diätschwester», Diätleiterin und schliesslich Diätassistentin. Zunächst können sich «Krankenschwestern» zur «Diätschwester» weiterbilden. 1930 absolvieren erstmals vier «Krankenschwestern» in Zürich eine dreimonatige Ausbildung. Im folgenden Jahr führt das Kantonsspital Zürich dann einen zweijährigen Lehrgang für Diätassistentinnen ein. Nach dem Zweiten Weltkrieg steigt die Nachfrage nach Fachpersonal weiter an. In Schweizer Spitälern wie dem Inselspital arbeiten vorwiegend Diätassistentinnen aus Deutschland oder den Niederlanden. Um dem Personalmangel entgegenzuwirken, werden weitere Schulen gegründet – zunächst in Genf und schliesslich auch in Bern. Die Berner Gesundheitsdirektion setzt sich Anfang der 1970er Jahre für die Gründung einer Schule für angehende Diätassistentinnen ein. 1972 startet am Inselspital unter der Leitung von Ute Kranholdt der erste Ausbildungslehrgang für Diätassistentinnen mit neun Teilnehmerinnen. 1982 anerkennt das Schweizerische Rote Kreuz das Diplom der Diätassistentinnen als medizinisch-therapeutische Ausbildung. Lange lassen sich ausschliesslich Frauen ausbilden, bis sich später sich auch vereinzelt Männer anmelden. Es bleibt jedoch bis heute ein eher weiblich dominierter Beruf. Die Inselspitalschulen gehen später in das dem Inselspital angegliederte Ausbildungszentrum für Gesundheitsberufe über. 1992 wird das Berufsbild offiziell umbenannt: Aus Diätassistentinnen werden Ernährungsberaterinnen. Im Rahmen der Bologna-Reform in den 2000er Jahren wird die Ausbildung zur Ernährungsberater:in erst nach intensiven Diskussionen zwischen Ausbildungs- und Berufsvertreter:innen mit dem damaligen Präsident der eidgenössischen Gesundheitsdirektorenkonferenz neu als Bachelorstudiengang Ernährung und Diätetik an der Berner Fachhochschule Gesundheit etabliert. Obwohl sich in Zürich ja die erste Deutschschweizer Schule für Diätassistentinnen in Zürich befindet, wird schliesslich der politische Entscheid gefällt, den Deutschweizer Studiengang Ernährung und Diätetik bei der Fachhochschule Bern und den Bachelor in Ergotherapie bei der Fachhochschule Winterthur anzusiedeln. Diätassistentinnen, um 1940 (Quelle: privat) Ein Blick in den Lehrplan Ein Blick in den Lehrplan, der 1940er Jahre zeigt, wie weit sich die Ernährungswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert bereits spezialisiert hat. Angehende Diätassistentinnen erhalten eine Ausbildung in Anatomie und Physiologie der Verdauung und des Stoffwechsels, lernen Krankheiten des Verdauungstrakts, des Stoffwechsels sowie der Leber und Galle kennen und üben in der Praxis die Zusammenstellung geeigneter Diäten. Diätassistentinnen arbeiten Mitte des 20. Jahrhunderts t in der Diätküche und sind zuständig für die Nährwertberechnung, die Zusammenstellung und Zubereitung der Diätmenüs, die Beschriftung der Diäten in Kantinen und später auch für die Servicekontrolle. Sie gewährleisten, dass die Patienten die richtige Diät erhalten. Zu Beginn begleiten die Diätassistentinnen den Prozess bis zur Essensausgabe und werfen einen letzten prüfenden Blick auf jede Mahlzeit. Erst in den 1990er-Jahren wandelt sich die Arbeit der Diätassistentinnen in den Spitälern grundlegend. Sie arbeiten nun vorwiegend mit Patient:innen auf den Stationen, in ambulanten Sprechstunden und in der Beratung. Die Zusammenarbeit mit der Küche oder Gastronomie beschränkt sich auf die Mitsprache bei Diätmenüplänen und die Weiterleitung von Spezialdiäten, die nicht durch Standardvorgaben abgedeckt sind. Aktuelle Fragestellungen klären sie je nach Thema idealerweise in Ernährungskommissionen oder Menükommissionen. Spezialisierte Köche für besonderes Essen Die Aufwertung der wissenschaftlich basierten Ernährung zeigt sich auch in der Küche. Im Kantonsspital Zürich entsteht bereits 1930 eine eigene Diätküche. Köche können sich nun zu Diätköchen weiterbilden, indem sie ein Jahr Spezialausbildung in einer Diätküche absolvieren. Danach arbeiten sie als «Hilfskräfte» unter den Diätleiterinnen. Am Inselspital hingegen werden die Diäten zu dieser Zeit im Küchengebäude mit dem markanten Kesselturm von 1884 zubereitet. Anschliessend füllt man sie in Gefässe aus Aluminium, die sogenannten «Kantinen», ab und versieht sie mit Zettelchen zur Kennzeichnung. Das «Abteilungsmädchen» holt die Portionen mit einem offenen Wägelchen aus der Küche und verteilt sie in den verschiedenen Abteilungen. Zentralküche des Inselspitals, 1888 (Staatsarchiv Bern Insel II 1173) Warmhalteteller, um 1950 (Medizinsammlung Inselspital Bern, Inv.-Nr. 13600) Anfangs sind normale Köche und später Diätassistentinnen für die Zubereitung verantwortlich. Doch auch in der Küche setzt ab den 1960er Jahren eine Spezialisierung ein. 1965 wird in der Schweiz der Beruf des Diätkochs geschaffen. Fortan übernimmt Fachpersonal die Zubereitung von Diäten in den Diätküchen. Die Zusammenstellung der Speisepläne, der Kontakt mit den Stationen und die Kontrolle der Essensverteilung bleiben weiterhin in der Verantwortung der Diätassistentinnen. Dadurch haben sie mehr Zeit für die Beratung der Patientinnen und Patienten sowie für die Begleitung bei Arztvisiten. 1969 eröffnet auch das Inselspital unter der Leitung von Diätküchenleiterin Ruth Wendler und Diätassistentin Margrith Landenberger eine Berner Schule für Diätköche. Diese Schule wird später im Rahmen der Reorganisation Insel 90 in das neu geschaffene Ausbildungszentrum mir eigenem Rektor integriert und 2006 an die Berufsfachschule Bern gibb übertragen. Essen auf dem Fliessband 1964 nimmt das Inselspital ein neues Wirtschaftsgebäude in Betrieb. Teil davon ist eine moderne Küche, die den Anforderungen der Zeit entspricht. Ein Fliessband mit Tablettsystem entlastet die Pflege und macht die Verteilung der Mahlzeiten effizienter. Die Patientinnen und Patienten wählen ihre Portionen selbst, wodurch weniger Essensreste anfallen. Dieser logistische Fortschritt ist richtungsweisend und bildet bis heute die Grundlage der Speiseverteilung in Spitälern. Die Qualität der Verpflegung verbessert sich ebenfalls. Mit Unterstützung der leitenden Personen in der Küche und Diätküche erarbeitet sich das Inselspital einen exzellenten Ruf. Fachleute aus dem In- und Ausland besuchen den Betrieb regelmässig, um sich über die Abläufe zu informieren und inspirieren zu lassen. Service am neuen Fliessband, nach 1964 (Quelle: Chronik Gastronomie Inselspital) Diätschemen: Was kommt auf den Tisch? Wie sehen Menüpläne im Spital genau aus, und auf welche Kriterien stützen sich Ärzt:innen und Ernährungsberaterinnen? Die Humoralpathologie und die «sex res non naturales» gehören im 20. Jahrhundert längst der Vergangenheit an. Stattdessen basieren Diäten auf ernährungsphysiologischen Erkenntnissen. Auf dieser Grundlage stellen «Diätschwestern» und Diätköchinnen ab den 1930er-Jahren in Spitälern wie dem Inselspital die Mahlzeiten für Patient:innen zusammen. In dieser Zeit sind sie das Bindeglied zwischen Arzt, Patient:innen und Küche. Während der Arztvisiten erhalten sie den Auftrag, eine Diät für eine bestimmte Patientin oder einen bestimmten Patienten umzusetzen. Der Hauptzweck besteht darin, den Kranken geeignete Nährstoffe zuzuführen und alles zu vermeiden, was ihrer Genesung schaden könnte. Gleichzeitig sollen die Mahlzeiten schmackhaft und abwechslungsreich sein. Doch bereits in den 1930er-Jahren äussern Patient:innen erste Wünsche. So verlangt eine Patientin in einem Berner Spital Rohkost und vegetarische Kost als Teil ihrer Ernährungstherapie. In den 1950er-Jahren bietet die Küche des Inselspitals neben der standardisierten Diätkost auch Spezialdiäten wie Schaukelkost (Wechsel von Rohkost und salzarmer Kost) oder die kohlenhydratarme Hollywood-Diät an. Auflistung ausgegebener Diätformen im Inselspital , 1958/ 59 (Quelle: privat) 1956 gewährt eine Berner Diätassistentin einer breiten Öffentlichkeit erstmals einen Einblick in das damals noch neue und weitgehend unbekannte Berufsfeld. Sie beschreibt, wie ärztliche Verordnungen über Eiweiss, Fett, Kohlenhydrate und Kalorien in konkrete Menüs umgesetzt werden. Dabei wird das Grundmenü für Nicht-Diät-Patient:innen als Basis genommen und angepasst. So wird Hühnersuppe, Huhn mit abgewogenem Reis, Eierschwämme und Fruchtkuchen für Diabetiker zu Bouillon mit Ei, gesottenem Huhn, Tomaten, Eierschwämmen, Reis und Grapefruit-Salat Lange Zeit haben Patient:innen wenig Mitspracherecht. Sie erhalten, was Ärzt:innen und Diätassistentinnen als gesund erachten oder auch was aus Tradition und aufgrund fehlenden Forschungswissens serviert wird. Ab den 1980er-Jahren wird der Einbezug von Wünschen der Patient:innen in der Schweiz verstärkt. Ziel ist es, das Essen an die individuellen Gewohnheiten und kulturellen Hintergründe der Patient:innen anzupassen. Am Inselspital können seither Patient:innen zwischen Tagesmenüs und standardisierten Wahlangeboten wie einem Fleischteller, Café complet, Birchermüesli oder einem Salatteller wählen. Auch beim Frühstück stehen zusätzliche Komponenten zur Auswahl. Diese Wahlangebote werden ebenso bei den häufigsten Diätkostformen angeboten und entwickelten sich stets weiter. Diese Veränderungen wirken sich auf die Arbeit der Diätassistentinnen aus. Sie müssen weniger individuelle Wünsche im Rahmen der legendären Wunschkost umsetzen. Der tägliche Besuch von schwerkranken Diätpatient:innen zur Befragung der Essenswünsche für den aktuellen Tag war jahrelang eine der zeitintensiven Aufgaben der Diätassistentinnen. Diese können sich nun vermehrt auf die Betreuung und Beratung von Diätpatient:innen konzentrieren. Dennoch stösst die individuelle Verpflegung in einem Grossbetrieb wie dem Inselspital an Grenzen. Die Küche setzt auf eine stärkere Normierung und Vereinfachung, um den Betrieb effizient zu gestalten. Menükarte für Erwachsene, um 2000 (Medizinsammlung Inselspital Bern, o. Nr. ) In den 1990er-Jahren entstehen «Ernährungsformenkataloge», die Kostformen klar definieren. Diese formulieren Ernährungsberater:innen gemäss dem internen Bedarf, aber auch basierend auf dem 1978 von der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für klinische Diätetik e. V. veröffentlichten Rationalisierungsschema für die Ernährung und Diätetik im Spital. Solche Schemen erleichtern den an der Essensbestellung und -verteilung beteiligten Personen die Arbeit. Dazu gehören einerseits die verordnenden Ärzt:innen, andererseits die Pflegefachpersonen, die Diätköche in der Küche sowie nicht zuletzt auch die Ernährungsberater:innen. Ernährung als Therapie In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schreitet die Verwissenschaftlichung der Ernährung voran. Gleichzeitig prägen sogenannte Zivilisationskrankheiten die medizinischen und gesellschaftlichen Debatten. Eine falsche Ernährung gilt nun als Auslöser zahlreicher Erkrankungen wie Herzkreislauferkrankungen , Gicht, Diabetes und Zahnkaries. Dies führt zu einem Aufschwung der Ernährungsberatung, und die Ernährung wird zunehmend als eigenständige Therapieform anerkannt. In den 1960er-Jahren bilden Leitfäden von Universitätsprofessoren im deutschsprachigen Raum die Grundlage für Diäten im Spital sowie für die Beratung von Patient:innen. Auch in der Schweiz entstehen Konzepte, Schemen und Kochbücher für die praktische Umsetzung. So veröffentlicht etwa Tina Ehrenhaft, eine erfahrene «Diätschwester» des Krankenhauses Bethanien in Zürich und Luzern, um 1960 ein Kochbuch für «Zuckerkranke». Sie betont darin, dass eine abgemessene Diät sowohl eine abwechslungsreiche Ernährung als auch eine wirksame Behandlung von Diabetiker:innen ermöglicht. Am Inselspital in Bern führt der Diabetologe Arthur Teuscher 1966 eine Diabetesberatungsstelle ein. Gemeinsam mit den damals vorwiegend deutschen Diätassistentinnen entwickelt er einen spezifischen Diätplan. Die sogenannte «Teuschertabelle», die in Fachkreisen legendär wird, dient der individuellen Zusammenstellung von Diabetesdiäten und der Beratung insulinpflichtiger Diabetiker:innen. Die Diätküchenleiterinnen ergänzen dies mit einem eigenen Rezeptbuch. Der Ernährungsplan (E-Plan) wird bis in die 1990er-Jahre kontinuierlich weiterentwickelt und bleibt relativ lange im Einsatz und dient noch heute als Basis von Nachfolgetabellen. Prof. Dr. Arthur Teuscher während einer Standaktion der Ernährungsberaterinnen zu Ernährung bei Diabetes vor dem Personalrestauration im Wirtschaftsgebäude 1987 (Quelle: privat) Diabetesmenu nach Teuscherplan (Quelle: Chronik Gastronomie am Inselspital Bern) Ernährungsplan bei insulinpflichtigem Diabetes (Quelle: privat) Von «Schleim-Brei-Kompottpüree» und «Fast Track Konzepten» Trotz Professionalisierung und Verwissenschaftlichung halten sich auch traditionelle und wenig wissenschaftlich abgestützte Vorstellungen lange. Noch in den 1960er Jahren beruht der Kostaufbau nach Operationen, insbesondere im Magen-Darm-Bereich, vor allem auf den Erfahrungen von Ärzt:innen und Diätassistentinnen. Serviert wird, was als «leicht verdaulich» gilt – meist nicht zu «währschaft», ohne Rohkost und in pürierter Konsistenz. Die sogenannte «Schleim-Brei-Kompottpüree-Kost» stellt über Jahrzehnte die erste Kostform nach Operationen dar und wird oft erst mehrere Tage nach der Operation eingeführt. Diese Diät ist bis in die 1990er-Jahre verbreitet, wo sie von neuen, erfahrungsbasierten Konzepten abgelöst wird, die besser auf die aktuellen Essgewohnheiten abgestimmt sind. Ende der 1990er-Jahre bringt die praxisorientierte Forschung wesentliche Fortschritte im Bereich Ernährung nach Operationen. Im Rahmen der sogenannten «Fast-Track-Konzepte» in der Chirurgie wird die postoperative Ernährung frühzeitig gestartet und gezielt erforscht. Diese modernen Ansätze ersetzen schrittweise traditionelle Formen des Kostaufbaus und sorgen für eine bessere Erholung der Patient:innen. Wer macht was? Im Spital wirken unterschiedliche Berufsgruppen – Ärzt:innen, Ernährungsberater:innen und Köch:innen – zusammen, um zu bestimmen, was auf den Teller kommt. Diese Zusammenarbeit führt immer wieder zu Kompetenzstreitigkeiten. So stossen neue Ideen der Diätassistentinnen, die später Ernährungsberaterinnen heissen, in der Küche oft auf Skepsis. Während die Köch:innen primär auf den Geschmack fokussiert sind, verfolgen die Ernährungsberater:innen zusätzlich andere Ziele, wie die diätetische Eignung. Menübesprechung zwischen Diätassistentin (in der MItte) und Diätkoch 'Warme Küche' und Diätköchin "Kalte Küche' vor der Zubereitung der Diäten für die nächstfolgende Essensausgabe, 1985 (Quelle: privat) Bis in die 1990er-Jahre führen Ernährungsberaterinnen die abschliessende Fliessbandkontrolle der angerichteten Menüs durch. Dabei kommt es regelmässig zu Diskussionen mit den Diätköchen, sei es beispielsweise über versalzene Suppen, die Konsistenz gemixter Kost oder die generelle Kompetenz/Zuständigkeit zwischen Ernährungsberaterinnen und Diätköch:innen. In den 1990er-Jahren verändert sich die Arbeitsweise grundlegend. Eine neue Generation von Ernährungsberaterinnen wendet sich von der Küche ab und orientiert sich stärker hin zu den Stationen – näher zu den Patient:innen, Pflegefachpersonen und Ärzt:innen. Auch dieser Übergang verläuft nicht konfliktfrei: Die Abgabe der Qualitätskontrolle wird kontrovers diskutiert, teils bis in die Direktionssitzungen hinein. Ernährungsberatung am Bett (Quelle: Staatsarchiv Insel II 6160_03) Als Antwort auf diese Herausforderungen wird die Kommission für Ernährungsfragen (KFE) gegründet, geleitet von Ulrich Bürgi, dem 1991 neu ernannten Chefarzt und Leiter der Endokrinologie. Mit diesem Schritt wird die Ernährungsberatung der medizinischen Leitung unterstellt. Die organisatorische Veränderung markiert auch die Anerkennung der Ernährung als wesentlicher Bestandteil der medizinischen Therapie. Die Universität Bern stärkt diesen Trend weiter, indem sie 2006 bei der Einsetzung von Prof. Peter Diem als neuer Klinikdirektor den Namen «Klinische Ernährung » als Teilbereich der Endokrinologie in die medizinische Fakultät integriert. Spätestens ab 2002 gibt es an vielen europäischen Spitälern Ernährungskommissionen. Interessanterweise existiert bereits in den 1950er-Jahren am Inselspital eine Diätkommission, geleitet vom Chefendokrinologen Max König. Diese erarbeitet Diätschemen für die Patient:innenberatung, verliert jedoch im Laufe der Jahre an Bedeutung. Heute sind Ernährungsberater:innen in der Schweiz somit kaum mehr direkt in der Küche tätig. Sie (oder die Ernährungskommission) sind weisungsbefugt für Diäten, überprüfen teilweise noch Menüpläne von Spezialkostformen und nehmen an bestimmten Küchengremien teil. Ernährungsvisite mit Ernährungsmediziner, Spitalapothekerin, spezialisierte Pflege Ernährung und Ernährungsberaterin bei Patient mit parenteraler Ernährung, 2001 (Quelle: privat) Ein aktuelles Thema: «Mangel im Überfluss» Viele verbinden Ernährungsberatung primär mit Übergewicht. Tatsächlich ist jedoch auch die Mangelernährung ein zentrales Problem – selbst in der Schweiz. Studien zeigen, dass trotz ausgewogen zusammengestellter Spitalkost rund 40 Prozent der Patient:innen mangelernährt sind. Bereits in den 1990er-Jahren wird am Inselspital ein «Ernährungsteam» eingesetzt, das aus Ernährungsberater:innen, spezialisierten Pflegefachpersonen, Apotheker:innen und Ernährungsmediziner:innen besteht. Unter der Leitung von Prof. Zeno Stanga entwickelt dieses Team Strukturen und Methoden, um Mangelernährung effektiv zu behandeln. Beitrag in der Fernsehsendung Puls (ab Minute 6.00) Im Jahr 2001 genehmigt die Direktion des Inselspitals Stellenprozenten für die Verankerung des Ernährungsteams. Ziel ist es, Mangelernährte im gesamten Spital zu identifizieren, den Ernährungszustand zu erfassen und rechtzeitig zu behandeln. So wird sichergestellt, dass Patient:innen Therapien besser vertragen, sich nach Eingriffen schneller erholen und das Spital früher verlassen können. Das Ernährungsteam führt Ernährungsvisiten, - Konsilien und ambulante – Ernährungs-Sprechstunden durch. Diese Arbeit basiert auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, fördert Forschungsprojekte und entwickelt sich stetig weiter. Im selben Jahr weist auch der EU-Rat in einem Expertenbericht auf das Problem der Mangelernährung hin. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) nimmt das Thema auf und veröffentlicht 2006 einen Bericht zur Mangelernährung im Spital. Trotz dieser Fortschritte bleibt Mangelernährung ein unterschätztes Problem in Spitälern und Arztpraxen. Obwohl es etablierte Screenings zur Früherkennung gibt, wird die Mangelernährung noch immer nicht konsequent diagnostiziert und behandelt. Betroffen sind vor allem kranke Menschen, die krankheits- oder altersbedingt zu wenig essen, Nahrung nicht mehr vertragen oder nicht mehr aufnehmen können. Besonders lange Nüchternzeiten rund um Untersuchungen und Eingriffe verschlechtern den Ernährungszustand zusätzlich. Ernährungsteams sind daher gefordert, gemeinsam mit den behandelnden Ärzt:innen rechtzeitig Lösungen zu finden. Quellen und Literatur (Auswahl) Böhni, Ursula: Was ist eine Diätassistentin?, in: Das Schweizerische Rote Kreuz 65 (2), 1956, S. 23. Online: < https://doi.org/10.5169/seals-975608 >. Carpenter, Kenneth J.: A Short History of Nutritional Science: Part 1 (1785–1885), in: The Journal of Nutrition 133 (3), 01.03.2003, S. 638–645. Online: < https://doi.org/10.1093/jn/133.3.638 >; Carpenter, Kenneth J.: A Short History of Nutritional Science: Part 2 (1885–1912), in: The Journal of Nutrition 133 (4), 01.04.2003, S. 975–984. Online: < https://doi.org/10.1093/jn/133.4.975 >. Hintzsche, Erich; Rennefahrt, Hermann: Sechshundert Jahre Inselspital: 1354-1954, Bern 1954. Jakob Tanner; Margarita Primas; Martin Illi: "Ernährung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS) , Version vom 01.03.2017. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016224/2017-03-01/, konsultiert am 01.02.2025. Kranholdt, Ute: Aus der Praxis einer Diätassistentin, in: Das Schweizerische Rote Kreuz 83 (3), 1974, S. 20. Online: < https://doi.org/10.5169/seals-974708 >. Kranholdt, Ute: Diätassistentin: ein wenig bekannter medizinisch-therapeutischer Beruf, in: Das Schweizerische Rote Kreuz 88 (2), 1979, S. 17. Online: < https://doi.org/10.5169/seals-547971 >. Leu, Fritz: Das Inselspital: Geschichte des Universitätsspitals Bern 1954 - 2004, 2006. Martschukat, Jürgen: Das Zeitalter der Fitness: Wie der Körper zum Zeichen für Erfolg und Leistung wurde, Frankfurt am Main 2019. Tanner, Jakob: Fabrikmahlzeit: Ernährungswissenschaft, Industriearbeit und Volksernährung in der Schweiz 1890-1950, 1999 Zürich.
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