Vorsorgen

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Wir leben im Zeitalter der Vorsorge: Menschen treiben Sport, achten auf ihre Ernährung, zahlen vorausschauend Krankenkassenprämien oder schützen sich mit Impfungen vor Krankheiten. Auch Staaten interessieren sich für die Gesundheit der Bevölkerung und lenken mit Gesetzen und Aufklärungskampagnen das Gesundheitsverhalten. Dass verschiedene Akteure selbstverständlich versuchen, Gesundheit zu fördern und Erkrankungsrisiken durch Massnahmen in der Gegenwart zu vermindern, ist das Resultat einer langen Geschichte. Sie reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück und beruht auf veränderten Gesundheitskonzepten und der Vorstellung einer planbaren Zukunft.

Der Staat und die Gesundheit

Im 18. Jahrhundert entwickeln europäische Staaten ein neuartiges Interesse an Gesundheit und Krankheit, da die Grösse der Bevölkerung als wichtiger Faktor für den Erhalt der politischen und wirtschaftlichen Macht gilt. Mit dem Konzept der «Medizinischen Policey» wird die Grundlage für eine öffentliche Gesundheitspflege gelegt. Mithilfe der Ärzte greifen die Machthaber der Aufklärung nun systematisch in das Gesundheitsverhalten ihrer Untertanen ein: Sie bauen Gesundheitsbehörden auf und regulieren die medizinischen Berufe.

Pest und Scharlatane

Die Berner Regierung trifft seit dem Mittelalter Vorkehrungen gegen Seuchen und positioniert «Pestwachen». Im 18. Jahrhundert nimmt das politische Interesse an der Gesundheit der Bevölkerung zu. So stellt Albrecht von Haller als Mitglied des Sanitätsrats 1765 in einem Bericht eine mangelhafte medizinische Versorgung fest und fordert eine Verbesserung der Ausbildung. Tatsächlich geht die Berner Obrigkeit im ausgehenden 18. Jahrhundert verstärkt gegen «Scharlatane» vor, doch erst im 19. Jahrhundert treibt der neu gegründete Kanton dann auch die Professionalisierung des Medizinstudiums voran, um so die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten.

Die erste Impfung

Die Pocken gehören jahrhundertelang zu den häufigsten Todesursachen. Ende des 18. Jahrhunderts präsentiert der englische Landarzt Edward Jenner die Vakzination (lat.: vacca – dt.: die Kuh). Diese ungefährliche Impfung mit Kuhpocken-Viren schützt die Menschen. Diese Technik beruht jedoch nicht auf Forschung, sondern auf Erfahrungswissen. Sie verbreitet sich schnell – auch in Bern setzt sich der Chirurg Rudolf Abraham von Schiferli bereits 1800 für eine unentgeltliche Impfung ein. Die Pockenimpfung markiert eine Wende der staatlichen Gesundheitspolitik: Erstmals lässt sich die breite Bevölkerung schützen, bevor eine Seuche ausbricht. Gleichzeitig formiert sich massiver Widerstand gegen die staatlichen Eingriffe.

Die individuelle Vorsorge

Seit dem 18. Jahrhundert und der Aufklärung gilt die Gesundheit als höchstes persönliches Gut. Für die Ärzte ist der Gesundheitszustand nicht mehr ausschliesslich gottgegeben, sondern kann aktiv durch eine massvolle Lebensführung und die Regulierung der inneren und äusseren Reize mitgestaltet werden. Die Betonung der Eigenverantwortung entspricht dem Selbstverständnis des aufstrebenden Bürgertums. Um gesund zu bleiben, sollen – so der Ratschlag der Medizin – die Bürgerinnen und Bürger auf die Ernährung achten, gute Luft atmen, frisches Wasser trinken und ein ausgewogenes Verhältnis von Arbeit und Erholung pflegen. Auch die Naturheilkunde, die sich im 19. Jahrhundert in Abgrenzung zur naturwissenschaftlichen Medizin formiert, betont die Bedeutung von Luft, Licht, Wasser und Bewegung.

Die Diätetik

Die ärztlichen Empfehlungen einer massvollen Lebensführung beruhen auf dem Gesundheitsverständnis der Antike – der Diätetik. Zentral dafür ist die Lehre der «sex res non naturales». Sie betont die Bedeutung der Luft, des Lichts, des Klimas, der Kleider, der Körperpflege oder der Ernährung für die Gesundheit. Zahlreiche Ratgeber, Zeitschriftenartikel und Vorträge vermitteln Rezepte zur alltäglichen Pflege des Körpers und der Erhaltung der Gesundheit.

Luft, Licht und Wasser

Die Ärzte profilieren sich im 19. Jahrhundert als Experten für Gesundheitsfragen und betonen die gesundheitsfördernde Wirkung von Wasser, Licht und Luft. So erleben auch die Schweizer Kurorte ein «Goldenes Zeitalter». Allein im Kanton Bern existieren 1863 73 Bäder. Mit Mineral- oder Schlammbädern, Trinkkuren oder Licht-, Luft und Sonnenbädern kann sich vor allem die vermögende Kundschaft erholen und kurieren. Besondere Bekanntheit erlangen das Thermalbad in Weissenburg und das Gurnigelbad mit seinen schwefel- und eisenhaltigen Quellen. Im 17. Jahrhundert noch ein Bad für die Landbevölkerung, entwickelt sich das Gurnigelbad in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem bekannten Kurhotel, das Gäste aus aller Welt beherbergt.

Öffentliche Hygiene

Seit den 1830er-Jahren treten europaweit regelmässig Cholera-Epidemien auf. Die zahlreichen Opfer der Epidemien zeigen deutlich auf, dass die individuelle Gesundheitsvorsorge ergänzt werden muss. Es etabliert sich das Konzept der «öffentlichen Hygiene», das die traditionellen hygienischen Rezepte auf die gesamte Bevölkerung überträgt. Regierungen beginnen, gesunde Wohnorte, sauberes Wasser, die richtige Ernährung und ausreichend Erholung zu fördern. Die Reformen beruhen zwar noch nicht auf Erkenntnissen der Bakteriologie, verbessern jedoch vor allem in Städten die Lebensbedingungen.

(Ab-)Wasser

Bern bleibt im 19. Jahrhundert zwar von der Cholera, nicht jedoch von Typhus verschont. Der Stadtrat formuliert Verhaltensregeln, um Krankheiten vorzubeugen. Zugleich setzt er eine ständige Sanitätskommission für die Seuchenbekämpfung ein. Öffentliche Bekanntmachungen weisen auf Gefahrenquellen wie «faulendes Wasser» oder «unreinliche Abtritte» hin. Insbesondere Adolf Vogt und Adolf Ziegler, die beiden Berner Vertreter der Hygienebewegung, engagieren sich für die Reinhaltung von Wasser, Luft und Boden. Um 1870 lösen ein Hochdruckleitungsnetz für die Trinkwasserversorgung und eine Schwemmkanalisation die mittelalterlichen Wassersysteme ab.

Literarische «Impfpropaganda»

Im 19. Jahrhundert geht die Berner Regierung verstärkt gegen «Quacksalber» vor und intensiviert den Kampf gegen die Pocken. Dazu beauftragt die Sanitätskommission Jeremias Gotthelf mit einer Aufklärungsschrift. Unterstützt von seinem Jugendfreund Emanuel Eduard Fueter, Professor für Innere Medizin und Leiter der Kommission, schreibt Gotthelf den zweibändigen Roman «Wie Anne Bäbi Jowäger haushaltet und wie ihm mit dem Doktern geht», der weit mehr ist als platte Propaganda. Gotthelf rechnet einerseits mit Aberglauben und Wunderheilern ab, setzt sich jedoch andererseits auch kritisch mit den Grenzen der Naturwissenschaften auseinander.

Der Berner Lehrstuhl für Hygiene

Die Neubewertung der Gesundheitspflege zeigt sich auch in deren Institutionalisierung. Die Hygiene wird zur eigenständigen medizinischen Disziplin. Sie setzt sich für die Erforschung und Verbesserung der Umwelt ein. Der deutsche Chemiker und Apotheker Max von Pettenkofer gilt als ihr Gründer. In der Schweiz richtet die Berner Universität 1876 schweizweit den ersten Lehrstuhl für Hygiene ein. Die Professur übernimmt der in Deutschland geborene Adolf Vogt. Er ist Arzt und hat sich bereits zuvor für die Verbesserung der Wohnverhältnisse und die Abwasserentsorgung eingesetzt. Er trägt mit seiner Forschung und vor allem auch mit seinen zahlreichen Publikationen zur grossen Verbreitung des Themas bei.

«Kampf» gegen Bazillen

Ab 1880 erhält die Hygiene-Idee Konkurrenz: Unter dem Mikroskop werden winzige Organismen beobachtet. Forscher weisen den Zusammenhang zwischen diesen Mikroorganismen und zahlreichen Krankheiten nach. Dies ist der Beginn einer neuen medizinischen Disziplin – der Bakteriologie. Das Verständnis von Gesundheit und Krankheit wandelt sich fundamental: Nicht mehr eine Vielzahl von Faktoren entscheidet darüber, ob jemand gesund oder krank ist, sondern ein einzelner Mikroorganismus. Damit verlieren die traditionellen hygienischen Massnahmen und die Selbstsorge an Bedeutung. Ärzte sind nun die Experten und übernehmen verstärkt die Verantwortung für die Gesundheit.

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Sicheres Spucken

Tuberkulose ist im 19. Jahrhundert eine weit verbreitete und gefürchtete Krankheit. Als sich die Anzeichen verdichten, dass es sich um eine Infektionskrankheit handelt, starten grosse Aufklärungskampagnen, um Ansteckungen zu verhindern. Vor allem das Ausspucken auf den Boden ist den Behörden wie auch den Ärzten ein Dorn im Auge. Ein besonders praktisches Gegenmittel: der 1889 entwickelte Taschenspucknapf. Er lässt sich dicht verschliessen und das blaue Glas verbirgt den unappetitlichen Inhalt. Deshalb trägt er bald den Spitznamen «Blauer Heinrich».

Berner Impfungen

Die Bakteriologie identifiziert immer mehr krankheitserregende Mikroorganismen. Das bietet neue und bahnbrechende Ansatzpunkte für die Krankheitsprävention: So entwickeln Bakteriologen und Immunologen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert Impfungen gegen verschiedene Krankheiten. In Bern entsteht 1898 aus der Fusion zweier Firmen das Schweizerische Serum- und Impfinstitut Berna, das zunächst vor allem Pockenimpfstoffe herstellt, bald aber auch Impfstoffe gegen Diphtherie, Cholera und später auch Poliomyelitis, Hepatitis oder Influenza.

Das mobile Labor

1894 weist der Schweizer Bakteriologe Alexandre Yersin den Erreger der Pest nach und trägt damit zur Klärung des Übertragungswegs bei. Als es 1899 in Europa zu kleineren Pestausbrüchen kommt, entscheidet der Schweizer Bundesrat, Vorkehrungen zu treffen: Schnell wird die Entwicklung eines mobilen Untersuchungslabors in Auftrag gegeben. Ernst Tavel, Leiter des noch jungen Instituts zur Erforschung von Infektionskrankheiten der Universität Bern, entwirft in Zusammenarbeit mit dem Sanitätsgeschäft Maurice Schaerer einen mobilen Pestuntersuchungskasten, mit dem sich Verdachtsfälle abklären lassen.

Gesundheitspflege im frühen 20. Jahrhundert

Im Verlauf des 19. Jahrhunderts entwickelt sich die Hygiene zu einem allgegenwärtigen Thema und die Gesundheitspflege zu einer staatsbürgerlichen Pflicht. Medizin und Politik, aber auch zahlreiche private Institutionen und Vereine setzen sich für die Erhaltung der Gesundheit ein, und zwar die der einzelnen Individuen wie auch des gesamten «Volkes». Der Staat nimmt mit baulichen und gesetzlichen Massnahmen Einfluss. Internationale Tagungen behandeln Schul- oder Lebensmittelhygiene, Alkoholismus oder Geschlechtskrankheiten. Zahllose Schriften sowie grosse Ausstellungen und Kampagnen halten die Menschen zur gesunden Lebensführung an.

Hygieneausstellungen

Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert präsentieren grosse Hygiene-Ausstellungen leicht verständlich Wissen und bevölkerungspolitische Ideen. Die hygienische «Volksbelehrung» soll dazu beitragen, Krankheiten vorzubeugen, die Arbeitsleistung zu maximieren und Krankheitskosten einzusparen. 1911 nimmt die Schweiz auf Einladung an der Internationalen Hygieneausstellung in Dresden teil. In einem Pavillon im Chalet-Stil präsentiert sie die hygienischen Errungenschaften – darunter auch Modelle des Inselspitals. 20 Jahre später wird die erste Schweizerische Hygiene- und Sport-Ausstellung (Hyspa) in Bern durchgeführt, die einem breiten Publikum zahlreiche Aspekte der Gesundheitspflege näherbringt.

Jod gegen Kropfbildung

Reisende durch den Alpenraum beschreiben seit dem Mittelalter Menschen mit Kleinwuchs, Schwerhörigkeit, Missbildungen, Kropfbildung der Schilddrüse und geistigen Behinderungen («Kretinismus»). Im 19. Jahrhundert belegen medizinische Studien die enorme Verbreitung dieser Erkrankungen. Erste Ärzte bringen diese Symptome mit Jodmangel, aber auch mit klimatischen und hygienischen Faktoren in Verbindung. Erst als sich nach 1910 das Konzept der Mangelerkrankung durchsetzt und der Zusammenhang zwischen Jod und der Schilddrüse geklärt wird, ist der Weg für eine besonders erfolgreiche Präventionsmassnahme frei: Bis 1930 setzen alle Kantone eine staatlich verordnete Jodsalzprophylaxe durch. Die Folgen werden sofort sichtbar, denn Phänomene wie die Kropfbildung und der Kretinismus gehen schnell zurück.

Heilanstalt für Kretinen

Der Arzt Johann Jakob Guggenbühl (1816-1863) ist der Erste, der den sogenannten Kretinen eine Ausbildung und medizinische Betreuung verschaffen will. Mithilfe von Gönnern eröffnet er 1841 auf dem Abendberg oberhalb von Interlaken eine Heilanstalt für bis zu 50 Kinder. Das günstige Klima, Unterricht, körperliche Betätigung und Diät sollen zu einer Verbesserung der Symptome, wenn nicht gar zur Heilung führen. Persönlichkeiten aus dem In- und Ausland besuchen die Vorzeigeinstitution und Guggenbühl wird zur vielbeschäftigten Berühmtheit. Darüber vernachlässigt er die Anstalt allerdings und täuscht sogar Heilerfolge vor. Eine Untersuchung stellt 1858 eine eklatante Vernachlässigung fest und schliesst den Abendberg. Trotzdem bleibt Guggenbühl eine bedeutende Figur: Er stösst die Gründung zahlreicher Institutionen für geistig Kranke nach dem Modell des Abendbergs an.

«Volkskrankheit» Tuberkulose

1903 nimmt in Bern die «Schweizerische Zentralkommission gegen die Tuberkulose» (heute: «Lungenliga») ihre Arbeit auf. Die Gründung deutet eine neue Phase im Umgang mit der Tuberkulose an. Ab diesem Zeitpunkt stehen nicht mehr ausschliesslich die Heilung oder Linderung im Zentrum, sondern Aufklärung und gezielte Massnahmen sollen vor Ansteckungen schützen. 1928 erlassen die Schweizer Behörden schliesslich das Tuberkulosegesetz. Auf dieser Grundlage werden die verschiedenen Massnahmen koordiniert und die Kantone zur Prävention und Aufklärung verpflichtet.

Die Krankenkassen

Lange müssen Kranke bei einer Krankheit selbst für die anfallenden Kosten aufkommen. Die zunehmende Lohnarbeit im Rahmen der Industrialisierung macht dann eine neue Form der Vorsorge notwendig: Private Vereinigungen, Berufsverbände und Gewerkschaften gründen im 19. Jahrhundert Hilfskassen. Diese übernehmen zunächst den Lohnausfall und dann auch die Behandlungskosten. Nach langen Diskussionen nehmen die Schweizer Stimmberechtigten 1912 das Kranken- und Unfallversicherungsgesetz an, das jedoch weiterhin von einem Obligatorium absieht. In der Folge nimmt die Zahl der Krankenversicherten langsam, aber stetig zu. Trotz mehrfacher Vorstösse tritt ein schweizweites Obligatorium jedoch erst 1996 in Kraft.

Schlank und gesund

Richtiges Essen und Trinken sowie der massvolle Konsum von Genussmitteln gelten seit dem 18. Jahrhundert als Schlüssel für ein gesundes Leben. Im 20. Jahrhundert werden in den Diskussionen um die Ernährung zwei neue Akzente gesetzt: Einerseits rückt in Europa im Zuge der Wohlstandsgesellschaft immer stärker das Thema Übergewicht als medizinisches Problem ins Bewusstsein der Medizin und der Öffentlichkeit. Andererseits gerät eine falsche Ernährung in den Verdacht, ein Risikofaktor für verschiedene Krankheiten zu sein. Wichtige Stichwortgeberin ist dabei die Medizin, doch die Expertise für die Ernährung liegt heute nicht ausschliesslich bei der Wissenschaft: Low-Carb, Trennkost, Intervall-Fasten-Diätspezialistinnen, Fitness-Influencer oder Ernährungscoachs schlagen eine unübersichtliche Vielzahl an Ernährungsweisen vor.

Ernährungsberatung im Inselspital

Brot, «Mues» und die tägliche Ration Wein – seit der Gründung ist die ausreichende Versorgung der Patientinnen und Patienten im Inselspital ein wiederkehrendes Thema. Ab 1920 erstellen «Diätschwestern» individuelle Menüpläne und beraten die Patienten und Patientinnen am Krankenbett. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schreitet die Verwissenschaftlichung der Ernährung voran: So gründet der Endokrinologe Arthur Teuscher 1966 eine Diabetesberatungsstelle und entwickelt spezifische Diätschemen. 1969 schafft das Inselspital eine interne Schule für Diätköchinnen, und 1972 folgt ein Ausbildungslehrgang für Diätassistenten.

Feind Alkohol

Der übermässige Konsum von Alkohol, insbesondere von Schnaps, wird im ausgehenden 19. Jahrhundert zunehmend problematisiert. Behörden, aber vor allem auch private Organisationen wie die Gemeinnützigen Gesellschaften, sozialhygienische Vereine oder das christlich motivierte «Blaue Kreuz» betrachten Alkohol als Gefahr für die «Volksgesundheit» oder die gesellschaftliche Moral. Sie propagieren Mässigung oder vollständige Abstinenz. Da sich die Konsumgewohnheiten ändern, verliert die Abstinenzbewegung an Bedeutung, doch bis heute gilt Alkoholkonsum als möglicher Risikofaktor für verschiedene Erkrankungen.

Kalorienzählen

Im späten 19. Jahrhundert quantifizieren Physiologen erstmals die Nahrung und führen mit der «Kalorie» eine Masseinheit ein. Gleichzeitig identifiziert die Medizin erstmals Übergewicht als Problem, sodass erste Ratgeber das Kalorienzählen für die Gewichtskontrolle empfehlen. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzt sich dann das Ideal des schlanken Körpers durch. Im Zeitalter der Fitness kommt der Ernährung neben der Bewegung eine zentrale Rolle zu. Staatliche Kampagnen, aber auch private Akteure geben Empfehlungen und Tipps ab, wie sich das Idealgewicht halten oder erreichen lässt.

Gesundheitsrisiken

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erfahren die Präventionskonzepte eine entscheidende Erweiterung. Neu stehen die Gesundheitsrisiken im Fokus. Mit der Etablierung des Risikofaktorenmodells seit den 1950er-Jahren verschiebt sich die Ausrichtung der präventiven Massnahmen: Die Bekämpfung einzelner Krankheiten steht nicht mehr ausschliesslich im Vordergrund, sondern risikoreiche Verhaltensweisen sollen unterlassen werden. Grossangelegte Gesundheitskampagnen des Staates oder privater Organisationen zielen dann auch darauf ab, die Bevölkerung bezüglich des Konsums von Alkohol und Tabakprodukten, Bewegungsmangel oder Übergewicht zu sensibilisieren.

Zivilisationskrankheiten

Seit den 1950er-Jahren rücken chronische und vor allem Herzkreislauferkrankungen in den Fokus von Wissenschaft und Öffentlichkeit. Sie lassen sich nicht auf einen Erreger zurückführen, sondern auf unterschiedliche Risikofaktoren wie Rauchen, Bluthochdruck und erhöhte Cholesterinwerte. Sie gelten als typische Begleiterscheinung der modernen Lebensweise. Die Risikokalkulation dient dabei als Basis für individuelle Prävention wie auch der gezielten staatlichen Massnahmen, um die Gesundheit zu erhalten.

Krebs

Um 1900 machen statistische Erhebungen, Häufungen und Muster Krebserkrankungen sichtbar und zu einem viel diskutierten Thema. Mit dem Ziel, die Bevölkerung über das «Krebsproblem» zu informieren, wird 1910 in Bern die «Schweizerische Vereinigung für Krebsbekämpfung» (heute: «Krebsliga») gegründet. Interpretierten die Ärzte Krebs zunächst als Zivilisations- oder Alterserkrankung, setzt sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein differenzierter Blick durch, der unterschiedliche Risikofaktoren identifiziert. Die Vereinigung für Krebsbekämpfung setzt in ihrer Aufklärungsarbeit auf Neue Medien und veröffentlicht Aufklärungsfilme. Die Botschaft ist klar: Um Krebserkrankungen erfolgreich zu therapieren, ist die Früherkennung notwendig.

Präventivmedizin

Das steigende Interesse an präventiven Massnahmen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt sich auch in der Etablierung eines eigenständigen, medizinischen Teilgebiets: Die Präventivmedizin verfolgt das Ziel, die Gesundheit der Bevölkerung zu verbessern oder zu erhalten. 1971 schafft die Berner Universität das Institut für Sozial- und Präventivmedizin, das zu Suchtverhalten, Gesundheitstraining oder Übergewicht forscht.

Das Zeitalter der Fitness

In den späten 1960er-Jahren setzt ein Fitnessboom ein. Gesundheitskampagnen, -ratgeber und -empfehlungen propagieren einen fitten und schlanken Idealkörper. Jede und jeder Einzelne soll freiwillig in die eigene Gesundheit investieren. Menschen sollen weniger durch Gesetze und Vorschriften, sondern durch subtile Hinweise in die richtige, d. h. die als gesund angesehene Richtung gewiesen werden. Die individuelle Vorsorge erlebt eine Renaissance, und die Menschen beginnen, ins Fitnesscenter zu gehen, auf ihre Ernährung zu achten und mittels neuer Technologien ihren Körper und Bewegungen zu vermessen. Diese Selbstoptimierung passt zu einer Arbeitswelt und einer Gesellschaft, die hohe Ansprüche stellt.

Waldgymnastik

Seit den 1970er-Jahren rennen und turnen Schweizerinnen und Schweizer im Wald. 1968 wird ein erster «Vita-Parcours» in Zürich eröffnet – benannt nach der Sponsorin. Die kostenlosen Sportanlagen, die auch in anderen Ländern eingeführt werden, sind Ausdruck einer grösseren Entwicklung, die körperliche Fitness neu bewertet. In den 1980er-Jahren bekommen die Wald-Parcours-Anlagen zwar durch die Fitnesscenter und andere Trendsportarten Konkurrenz, gewinnen jedoch während der aktuellen Covid-Pandemie wieder an Beliebtheit.

Das Schweizer Aerobic

Die Fitnesswelle ist auch ein Medienphänomen. Zeitschriften, günstige Taschenbücher und vor allem auch Fernsehsendungen bieten zahlreiche Gesundheits- und Fitnesstipps. In der Schweiz animiert der ehemalige Kunstturner Jakob «Jack» Günthard in den 1970er-Jahren in der Radiosendung «Frühturnen mit Jack» und der Fernsehsendung «Fit mit Jack» die Schweizerinnen und Schweizer: Kraft- und Ausdauerübungen bringen das Publikum zum Schwitzen.

Die Selbstvermessung

Verschiedene technische Entwicklungen unterstützen die Menschen dabei, schöner und fitter zu werden. Bereits im 19. Jahrhundert gibt es mechanische Pedometer, die Schritte zählen, doch erst aufgrund der Neubewertung der körperlichen Fitness und der zunehmend individuellen Gesundheitsvorsorge gewinnen elektronische Geräte an Bedeutung. Heute helfen zahlreiche Apps und Tracking-Devices, Dauer und Intensität einer sportlichen Betätigung aufzuzeichnen, auszuwerten und vor allem zu vergleichen. Der Staat muss uns gar nicht mehr zum gesunden Verhalten ermahnen – wir kontrollieren uns selbst.

Rückkehr der «Seuchen»?

Dank verbesserter Hygiene, Impfungen und Antibiotika treten zumindest im globalen Norden die Infektionskrankheiten im Verlauf des 20. Jahrhunderts in den Hintergrund. Doch spätestens die AIDS-Epidemie der 1980er-Jahre verdeutlicht, dass solche ansteckenden Krankheiten auch mit grossem Aufwand nicht einfach aus der Welt geschafft werden können. Angesichts zunehmender Antibiotikaresistenzen oder jüngst der Covid-19-Pandemie stellt sich gar die Frage, ob die Welt vor einem neuen Zeitalter der «Seuchen» steht.

AIDS

Anfang der 1980er-Jahre berichten Medien über eine neue, sexuell übertragbare Krankheit. Gesundheitsämter, Politikerinnen, Ärzte und auch die Öffentlichkeit ringen um einen angemessenen Umgang mit der Epidemie. Eine wichtige Massnahme: 1985 wird die «Aids-Hilfe Schweiz» gegründet. Sie führt grosse und viel beachtete Informationskampagnen durch, um die Lebensqualität Erkrankter zu verbessern und Neuinfektionen vorzubeugen.

Covid-19

Im Dezember 2019 treten im chinesischen Wuhan erste Fälle einer Lungenentzündung auf. Wenige Monate später wütet eine weltweite Pandemie. Politische Entscheidungsträger und -trägerinnen lassen sich von Epidemiologen und Virologinnen beraten. Viele Staaten greifen zur Eindämmung der Erkrankung auf alte Rezepte zurück: Einreisesperren, Ausgangsbeschränkungen, Quarantäne oder Maskenpflicht – Massnahmen, die seit der Vormoderne zur Seuchenbekämpfung eingesetzt werden. Die Rückkehr zur Normalität verspricht die Entwicklung eines neuartigen Impfstoffs in Rekordzeit.

Impf- und Maskenskepsis

Ein grosser Teil der Bevölkerung unterstützt die Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Einige Menschen lehnen es jedoch ab, Masken zu tragen und sich impfen zu lassen. Auch die wissenschaftliche Expertise stösst in dieser Gruppe auf Widerstand.

Auswahlbibliografie

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  • geschichtedersozialensicherheit.ch