Inselgeschichten: Das "Haubenproblem"
12 febbraio 2024
1973 kam es im Inselspital zu einem „Haubenproblem“. Im Zentrum stand die Frage, ob die Pflegerinnen verpflichtet waren, im Dienst die Kopfbedeckung – die „Schwesternhaube“ – zu tragen. Die Diskussionen, an denen unterschiedliche Personen beteiligt waren, geben Einblicke in eine Zeit des Wandels – nicht nur des Pflegeberufes und des Inselspitals, sondern auch der Gesellschaft.
Angestossen wurde das „Haubenproblem“ Ende Mai 1973 von der Oberschwester der Kinderklinik, Sylvia Röllin. Sie wandte sich schriftlich mit der Bitte an die Oberin des Inselspitals, Johanna Lais, die Haubentragepflicht abzuschaffen. Gerade in der Arbeit mit Kindern sei „das Tragen der Haube wirklich oft lästig“ und alle anderen Kinderspitäler hätten die Haube bereits abgeschafft. Röllin preschte nicht alleine vor, sondern legte eine Unterschriftensammlung bei: Beinahe 100 Pflegerinnen von unterschiedlichen Stationen setzten sich für die Abschaffung des Obligatoriums ein.
Unterschriftensammlung gegen die Haubentragepflicht, 29. Mai 1973
Doch warum trugen die Krankenpflegerinnen überhaupt eine Haube? Bis heute üben meistens Frauen den Pflegeberuf aus. In der Vormoderne kümmerten sich jedoch auch männliche „Wärter“ oder Mönche um kranke und bedürftige Menschen. Im 19. Jahrhundert etablierte sich die Institution des Krankenhauses und es verfestigte sich die bürgerliche Vorstellung der „wohltätigen Frau“. Die Krankenpflege wurde zu einer „typisch“ weiblichen Tätigkeit. Weiterhin zentral blieb die Idee der christlichen Nächstenliebe. Noch Ende des 19. Jahrhunderts dominierten Ordensschwestern den Beruf. Insbesondere die Schwesterngemeinschaft der Diakonissen, die ab 1844 auch in Bern tätig war, war eine zentrale Akteurin. Nur langsam etablieren sich konfessionslose Schulen: 1899 gründete das Schweizerische Rote Kreuz in Bern eine erste Pflegerinnenschule. Auch weltlich ausgebildete „Krankenschwestern“ trugen weit ins 20. Jahrhundert hinein bei der Arbeit Kleidung, die nicht primär auf Funktionalität ausgerichtet war. Das Kleid, die Schürze und die Haube der verschiedenen Pflegeschulen erinnerten an religiöse Orden und die Tracht verheirateter, bürgerlicher Frauen des 19. Jahrhunderts. Viele Pflegerinnen verstanden diese Uniform ihrer Ausbildungsstätte als Auszeichnung und trugen sie mit Stolz – teilweise auch in der Freizeit.
Haube der Schwesternschule Engeried, um 1960 (Medizinsammlung Inselspital Bern)
Sonntagstracht der Lindenhof-Schule, 1963 (Medizinsammlung Inselspital Bern)
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts setzte ein tiefgehender Wandel ein – in der Gesellschaft, aber auch im Gesundheitswesen. Die Zahl der Patient:innen nahm zu, komplexe Apparate begannen die Medizin zu bestimmen und das Inselspital wurde zu einem Grossbetrieb. Von diesen Veränderungen war auch die Krankenpflege betroffen: Die Ansprüche an die Ausbildung stiegen und die traditionsreichen Institutionen hatten zunehmende Mühe, den steigenden Bedarf an diplomierten Krankenschwestern abzudecken. Ab den 1950er Jahren wurde immer wieder ein „Pflegenotstand“ konstatiert. Mit einer neuen Generation der „Pflegeschülerinnen“ begann zudem in den 1960er Jahren das Ideal des „Liebesdienstes“ zu erodieren: Viele „Krankenschwestern“ verstanden ihre Tätigkeit nun in erster Linie als Beruf – nicht mehr als Berufung und begannen, sich für bessere Arbeitsbedingungen einzusetzen.
Pflegefachfrau Anästhesie, um 1970 (Staatsarchiv Bern Insel II 2000)
Auch in den 1950er und 1960er Jahre gehörte die „Schwesterntracht“ inklusive der Haube wie selbstverständlich zum Alltag des Pflegepersonals. Haube, Schürze und Broschen galten als Uniform, die – wie eine Fachzeitschrift 1957 festhielt, – die „Grundprinzipien […] Gewissenhaftigkeit und Exaktheit“ repräsentierten. Die „Schwestern“ waren angehalten, ihre Kleidung sauber zu halten. Das war mit einem gewissen Aufwand verbunden: Insbesondere die Hauben mussten gewaschen, gestärkt und korrekt gefaltet werden.
Um 1970 häuften sich nun Stimmen, die die traditionelle Kleidung des Pflegepersonals zumindest ambivalent bewerteten. Die Schwesternschule Engeried schaffte beispielsweise die Ausgehtracht bereits 1970 ab – vor allem aus finanziellen Gründen: Viele Schülerinnen hatten sich die aufwändige Kleidung inklusive Pelerine schlicht nicht leisten können. Offenbar nahm die Motivation der jungen Pflegerinnen ab, sich an die strikte Kleiderordnung zu halten: So hielt 1971 die Oberin der Rotkreuzschule Lindenhof die Pflegeschülerinnen der Kinderklinik dazu an, sich trotz der sommerlichen Temperaturen ordnungsgemäss zu kleiden. Zudem wurde insbesondere die Haube neu eingeschätzt: Hatte lange die Bedeckung der Haare als hygienisch gegolten, wurde nun – so etwa 1971 in der Zeitschrift für Krankenpflege – darauf hingewiesen, dass die Haube selbst Trägerin von Keimen sein konnte.
1973 begann nun die Grundsatzdebatte über die Haubenpflicht am Inselspital. Deutlich gegen eine Lockerung sprach sich die Oberin des Inselspitals aus. Johanna Lais hatte das Amt seit 1969 inne. Zuvor hatte sie als Oberschwester der Neurochirurgie gearbeitet und sich mit Kursen und Praktika in England weitergebildet. Ihr unterstand ein eigenes Sekretariat und ein eigentlicher Stab an Mitarbeiterinnen, die sich um verschiedene Themen wie Material, Hygiene, Personalführung oder Schulung kümmerten. Unter ihrer Leitung war das Bettenhochhaus bezogen worden. Sie mobilisierte zunächst Unterstützerinnen und fragte dazu Inselspital-intern, aber auch in den „Schwesternschulen“ Elfenau und Lindenhof um eine Stellungnahme nach. Es lassen sich drei Hauptargumente für das weitere Tragen der Haube identifizieren. Erstens argumentierten die Befürworterinnen mit der Haube „als Statussymbol“ der ausgebildeten „Schwestern“. Gäbe man die Haube auf, wäre das nicht nur ein Bruch mit der Tradition, sondern würde konkrete Probleme nach sich ziehen: Das Pflegepersonal wäre nicht mehr sofort als solches erkennbar und würde in der Masse der weissgekleideten Krankenhausmitarbeitenden untergehen. Zweitens konnten sich die Haubenbefürworterinnen zwar nicht mehr auf den hygienischen Nutzen der Haube berufen, stellten jedoch heraus, dass eine Haube im Arbeitsalltag praktisch war und etwa lange Haare bändigen konnte. Dass es sich beim „Haubenproblem“ auch um einen Generationenkonflikt handelte, ist auch an einigen spitzen Bemerkungen in Richtung der aufbegehrenden „Schwestern“ erkennbar, denen ein „falsche[r] Freiheitsbegriff“ vorgeworfen wurde. Sie würden „bei einem persönlichen Wunsche stecken [bleiben]“, ohne einen „echten Beitrag an die Entwicklung des Berufsstandes zu leisten“.
Die Debatte zog schnell Kreise, sodass sich auch der Direktor der Kinderklinik, Ettore Rossi, und vor allem der Direktor des Inselspitals, François Kohler, mit der Thematik auseinandersetzen mussten. Die Insel-Direktion versuchte, die verschiedenen Argumente zu sortieren und zog einen externen Berater hinzu. Auf mehr als drei A4-Seiten legte dieser die „Argumente zum Haubenproblem“ aus und bewertete sie. Direktor Kohler ging dann nicht weiter auf die Fragen der Hygiene und Tradition ein, sondern identifizierte ein anderes Hauptargument, das er handschriftlich unter den Bericht des Beraters notierte: „Wir können es [die Haubentragepflicht] nicht durchsetzen.“ Tatsächlich hatte das Inselspital keine rechtliche Handhabe, das Pflegepersonal zum Tragen einer Haube zu verpflichten. Kohler befürchtete, dass Weisungen, die nicht eingehalten werden, „die Autorität der Leitung des Pflegedienstes und der Direktion untergrabe[n]“. Mitte Dezember 1973 teilte François Kohler Oberin Oeri der Schwesternschule Lindenhof seinen Entscheid mit: Den „Schwestern“ des Inselspitals stand in Zukunft frei, eine Haube zu tragen – oder nicht. Das war nicht das definitive Ende der Haube. Manche trugen die Haube weiter und auch die traditionellen Sonntagstrachten waren bis in die 1980er Jahre im Gebrauch, bis sich die funktionale und normierte Arbeitskleidung endgültig durchsetzte.
Braunschweig, Sabine; u.a. (Hg.): Pflege - Räume, Macht und Alltag: Beiträge zur Geschichte der Pflege, Zürich 2006.
Fairman, Julie A.; Whelan, Jean C.; D’Antonio, Patricia (Hg.): Routledge Handbook on the Global History of Nursing, London 2013.
Roth, Sabina; u.a. (Hg): PflegeKrisen, Zürich 2012 (Traverse 2012/2).