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Ausstellungsgeschichten: Der Fremdkörper



12. Februar 2024



Am 8. April 1920 musste der Patient A. K. von der „Irrenanstalt“ Waldau in die Chirurgische Klinik des Inselspitals verlegt werden. Die Waldau war 1855 auf dem Breitfeld als Institution für die „Irrenfürsorge“ eröffnet worden. Bei medizinischen Notfällen wurde das Inselspital hinzugezogen. Der Patient A. K. klagte über starke Bauchschmerzen, deren Ursache die Ärzte zunächst nicht bestimmen konnten. Seit einigen Jahren stand jedoch eine neue Untersuchungsmethode zur Verfügung, um in den Körper zu blicken: das Röntgen.


Das neu errichtete Gebäude der Waldau, um 1855 (Schweizerische Nationalbibliothek / Wikimedia Commons)


Röntgen in Bern

Als der damals unbekannte Physiker Conrad Wilhelm Röntgen im November 1895 bei Experimenten mit einer Kathodenstrahlenröhre entdeckte, dass die Strahlen aus der Röhre Objekte als helle Schatten auf einer fotografischen Platte abbildeten, war das der Beginn einer diagnostischen Revolution. Erstmals waren Mediziner in der Lage, in den Körper zu blicken, ohne ihn vorgängig aufschneiden zu müssen. Die neue Technik verbreitete sich rasant: In Bern experimentierte der Physiker und Meteorologe Aimé Forster wenige Wochen nach der Röntgen Bekanntmachung mit den X-Strahlen. Auch die Berner Ärzte griffen auf die Einrichtung von Forster am Physikalischen Institut der Universität zurück, bevor 1898 in einem Anbau der Chirurgischen Klinik ein eigenes Röntgeninstitut eingerichtet wurde.


Frühe Röntgenaufnahme vom Berner Physiker Aimé Forster (Nadelbruchstück im Zeigfinder), 1896 (Universitätsbibliothek Bern, RAR PH 4)


Anbau für das Röntgeninstitut an der westlichen Stirnseite des Haller-Pavillons (Staatsarchiv Bern, Insel II 1561)


Ein "diffuser" Fremdkörper

In der Chirurgischen Klinik des Inselspitals – damals unter der Leitung von Fritz de Quervain – gehörte um 1920 auch das Röntgen des Abdomens längst zur Routine. Die behandelnden Ärzte identifizierten auf dem Röntgenbild einen Fremdkörper – jedoch nur „diffus angedeutet“. Um ein besseres Bild zu erhalten, verabreichten sie ein Kontrastmittel. Die neuerliche Röntgenaufnahme ergab, dass Nahrungsmittel den Fremdkörper umspülten und der Magen stark erweitert war („gewaltig dilatiert“).


Röntgenbild des Mageninhaltes


Operative Entfernung

Woraus der grosse Fremdkörper bestand, war weiterhin unklar. Eine Operation war unumgänglich. Nur so konnte der Fremdkörper entfernt und die Schmerzen des Patienten gelindert werden. Zwar sind Fälle chirurgischer Entfernung von Fremdkörpern im Magen bereits aus dem 17. Jahrhundert überliefert. Doch erst die Etablierung wirksamer Narkosen, Techniken zu Kontrolle des Blutverlusts und anti- und aseptische Massnahmen führten dazu, dass im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts die Öffnung des Bauchraums zu einem Routineeingriff wurden. So führte ein Berner Chirurg am 9. April 1920 einen „langen Bauchschnitt“ durch und entfernte einen zweieinhalb Kilo schweren, „schwärzlich-graubraunen, sehr harten Fremdkörper“. Nun konnte das Rätsel gelöst werden: Der Fremdkörper bestand aus einem Knäuel Bettwäsche, die der Patient fein säuberlich in Streifen gerissen und offensichtlich gegessen hatte. Der Patient erholte sich in der Folge gut. 20 Tage nach der Operation kehrt er in die Waldau zurück. Bemerkenswerterweise interessierten sich die Ärzte in der psychiatrischen Klinik nicht für die konkreten Gründe, warum er die Bettwäsche gegessen hatte, sondern verstanden es als Ausdruck seiner Grunderkrankung.


Der operativ entfernte Fremdkörper


Uhrmacher und Zeichner – der Mensch hinter der Akte

Dass der Fall auch für die Chirurgen des Inselspitals nicht alltäglich war, zeigt die Nachbereitung: Sie dokumentierten den Fall auf einer Karteikarte und bewahrten den Fremdkörper auf. Irgendwann – die Details lassen sich nicht mehr rekonstruieren – verschwanden Fremdkörper und Dokumentation in einer Kartonschachtel im Keller des Inselspitals, bis sie knapp 100 Jahre nach den Ereignissen zufällig in die Medizinsammlung gelangten.


Dokumentation der Chirurgischen Klinik des Inselspitals (Medizinsammlung Inselspital Bern)


Der Fall ist viel mehr als ein blosses Kuriosum. Er gibt Auskunft über die Geschichte des Röntgens, der Chirurgie und der Psychiatrie. Dabei geht beinahe vergessen, dass dahinter eine tragische Lebensgeschichte steht, die sich bei der Lektüre der Krankenakte der Waldau zumindest erahnen lässt. A. K. wurde 1887 im neuenburgischen Dombresson als Sohn einer Uhrenarbeiterfamilie geboren, wo er „mit gutem Erfolg“ die Schule absolvierte und eine Lehre zum Uhrmacher machte. Später heiratete er, arbeitete in Genf als Krankenpfleger und bekam ein Kind. Zum Jahresbeginn 1915 bemerkte die Ehefrau erste Veränderungen. Er hatte „oft schlechten Appetit & konnte nächtelang nicht schlafen“. In den Folgemonaten litt er an „Melancholie und religiösen Wahnideen“, sodass er im Oktober schliesslich in der Neuenburger Klinik Préfargier eingewiesen und einen Monat später in die Waldau verlegt wurde. Die Diagnose: Dementia praecox – eine Krankheitsbezeichnung, die vom deutschen Psychiater Emil Kraepelin geprägt wurde und bereits um 1920 von der Bezeichnung Schizophrenie abgelöst wurde. Wenige Monate nach dem Aufenthalt im Inselspital wurde A.K. entlassen und führte anschliessend für 10 Jahre ein Leben ausserhalb der institutionellen Akten. 1930 kam er erneut in die Waldau. Ärzte hielten danach für sieben Jahre in unregelmässigen Abständen ihre Beobachtungen fest: Wenn er zu wenig ass und künstlich ernährt werden musste, sich über langweilige Arbeit beschwerte oder „merkwürdige Sachen“ zeichnete. 1937 konnte er nach Hause geschickt werden. Damit enden die Einträge in der Krankenakte und verliert sich seine Spur.


2008 konnte sich die Öffentlichkeit ein Bild von seinen zeichnerischen Fähigkeiten machen. Im Rahmen der Ausstellung „Der Himmel ist blau“ waren gleich mehrere Werke von ihm als Teil der Sammlung Morgenthaler im Kunstmuseum Bern zu sehen.