Objektgeschichten: Kranioklast
12 février 2024
Mediziner:innen wollen Leben retten. Doch nicht immer gelingt das. Bei einer Geburt geht es gleich um zwei Leben. Wenn das Kind stirbt, ist auch die Mutter in Gefahr. Oft hilft dann nur noch eine Operation. In der Vergangenheit waren chirurgische Instrumente wie der Kranioklast dazu nötig: nur eine Zerstückelung des Kindskörpers machte es möglich, die Geburt zu beenden.
Was tun, wenn das Kind nicht geboren werden kann? Heute wäre die Antwort wohl rasch: Kaiserschnitt! Doch diese Operation ist lange zu riskant für die Gebärende und wird nur als «sectio in mortua», also nur an Verstorbenen durchgeführt. Erst Ende des 19. Jahrhunderts sind die Mediziner technisch so weit, dass Gebärende in der Regel überleben. Das liegt vor allem an den neuen Antiseptika, die das Risiko einer Wundinfektion verringern (Kepp 1974:19).
Vor der Zeit des erfolgreichen Kaiserschnitts braucht es also andere Mittel, um eine Geburt im Notfall zu beenden: Die sogenannte Embryotomie, eine zerstückelnde Operation, ist dann das Einzige, was ein Geburtshelfer für die Gebärende noch tun kann.
Inhalt einer Geburtshelfertasche mit diversen Instrumenten für die Embryotomie, o.J. (Medizinsammlung Inselspital Bern, Inv.-Nr. 3331c)
Viele Jahrhunderte lang müssen Mediziner bei einer schwer verlaufenden Geburt einen harten Entscheid treffen: Häufig können sie nur Mutter oder Kind, nicht aber beide retten. Beim Kaiserschnitt überlebt vielleicht das Kind, bei einer Embryotomie bestenfalls die Mutter. Wenn das Kind nämlich ungünstig liegt oder einen zu grossen Kopf hat und während der Geburt stirbt, dann kann nur noch eine Embryotomie helfen.
Die Ungeborenen sterben also nicht am Eingriff, sondern schon vorher. Allerdings existiert das Argument für Embryotomien am lebenden Kind zumindest in medizinischen Lehrtexten: Wenige antike Autoren priorisieren darin klar das Leben der Mutter und empfehlen zerstückelnde Operationen im Notfall am toten oder lebenden Kind. In den medizinischen Texten nutzen Autoren dafür oft das Bild vom «Baum vor der Frucht» (Filippini 2002: 124). Doch im christlichen Raum wird dies im Spätmittelalter undenkbar. In dieser Zeit gilt Kindstötung sowohl als Sünde als auch als Kapitalverbrechen (Schäfer 1996: 293). Auch die Angst, dass Kinder ungetauft sterben könnten, spielt eine Rolle. Deswegen werden insbesondere in katholischen Gebieten teils Nottaufen vorgenommen. Dabei tauft ein lokaler Geistlicher oder die Hebamme das sterbende Kind – wenn nötig noch im Mutterleib (Seidel 1998: 47).
Insgesamt sind Embryotomien zwar lange nötig, jedoch befeuern sie stets auch ethische Debatten – insbesondere in Theologie und Medizin. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts spitzt sich die Diskussion zu: Vor allem die katholischen Theologen verurteilen den Eingriff nun lautstark als grausam und sprechen sich für den Kaiserschnitt aus (Filippini 2002: 125–127).
Das klassische Werkzeug der Hebammen bleibt bis heute die Hand. Die Entstehung des Geburtshelfer-Berufs ist hingegen eng an die Etablierung von Instrumenten gebunden. Das Instrumentarium ist dabei auch Symbol für eine «gebildete» Geburtshilfe, die Zeitgenossen als Gegensatz zur weiblichen Tradition verstehen. Ab dem 16. Jahrhundert übernehmen Männer ausgerüstet mit Messern, Haken und später auch Zangen weitgehend die Aufsicht über Geburten (Benedek 1977: 551). So belegen diverse Hebammenordnungen aus der Frühen Neuzeit, dass Handwerkschirurgen oder akademische Ärzte bei schweren Geburten hinzugezogen werden müssen. Im Rahmen dieser einsetzenden Professionalisierung und Hierarchisierung der Geburtshilfe, entstehen auch von Medizinern geführte Schulen. Die Kontrolle der Hebammen durch Männer der Medizin nimmt so im 17. und 18. Jahrhundert stark zu. Den Hebammen wird es in diesem Zusammenhang verboten, Medikamente zu verabreichen und Instrumente zu gebrauchen (Ackerknecht 1974: 187f.).
Zu den ältesten chirurgischen Instrumenten für die Embryotomie gehören Perforatorien, also spitze, schneidende Gegenstände, mit denen zum Beispiel die Schädeldecke des toten Kindes in der Gebärmutter durchbohrt werden kann. Danach entfernt der Geburtshelfer manchmal das Hirn, um das Kopfvolumen weiter zu verringern und versucht das Kind dann zumeist mit einem Haken herauszuziehen. Den Haken befestigt er dazu je nach Lage im Schädel oder Körper des toten Kindes. Solche spitzen oder stumpfen Haken gehören daher bis ins 19. Jahrhundert ebenfalls zur Standardausrüstung eines Geburtshelfers (Dietzel/Teufel 2003:123).
Embryotomien zielen darauf ab, den Kindskörper so weit zu verkleinern, dass er geboren oder mit Instrumenten herausgezogen werden kann. Die grösste Schwierigkeit stellt dabei der Kopf dar. Um ihn nicht nur perforieren und «enthirnen», sondern auch zerkleinern zu können, erfindet A. Baudelocque um 1829 den sogenannten Kephalothryptor (engl. cephalotribe, Dietzel/Teufel 2003: 124).
Dieses «Zermalmungs-Instrument» ist der Vorgänger des Kranioklasten und funktioniert wie eine massivere Geburtszange, die nicht greift, sondern quetscht und mithilfe eines Gewindes zusammengeschraubt werden kann. Da der Kephalothryptor aber unhandlich gross ist sowie häufig abrutscht, entwickelt der Arzt Sir James Young Simpson 1859 den Kranioklasten. In der Folge modifizieren verschiedene Geburtshelfer das Modell. Heute ist dasjenige von Braun (1862) besonders bekannt.
Kranioklast nach Braun, nach 1862 (Medizinsammlung Inselspital Bern, Inv.-Nr. 3507)
Mit diesem Instrument sollen die Geburtshelfer den Schädel nun nicht mehr zertrümmern, sondern vielmehr sicher greifen und herausziehen. Denn eine Zertrümmerung bedeutet auch immer, zu riskieren, dass Knochenstücke durch die Schädelhaut dringen und den Geburtskanal verletzen. Ausserdem bewirkt sie häufig gerade das Gegenteil davon, was eigentlich erzielt werden soll: Der Kopf wird breiter und noch sperriger. Der Kranioklast verbindet daher zwei Funktionen, die für eine erfolgreiche Extraktion des toten Kindes nötig sind: Erstens perforiert das eine, spitzige Blatt des Instruments den Kindskopf. So kann der Kranioklast so tief wie möglich in den Schädel hineingestossen werden. So findet das Instrument einen guten Halt. Zweitens kann der Geburtshelfer dann mit dem anderen Blatt einen sicheren Griff am Äusseren des Schädels finden. Danach fixiert der Geburtshelfer den Kranioklasten mit dem Schraubengewinde am Griff und zieht den Kindskörper hinaus. Im Idealfall passt sich der perforierte Schädel beim Herausziehen dem Geburtskanal an und kann so endlich passieren.
Im 20. Jahrhundert etabliert sich der Kaiserschnitt als Routineeingriff. Damit verlieren die Embryotomie-Instrumente ihre Bedeutung. Wenn Mediziner:innen heute bei Voruntersuchungen Komplikationen befürchten, planen sie mit der Schwangeren einen Kaiserschnitt. Dennoch sind Perforatorien, Geburtshaken und Kranioklasten auch jetzt nicht nur in Sammlungen und Museen zu finden. Während Embryotomien an Menschen in der Schweiz kaum mehr durchgeführt werden, sind sie in der Veterinärmedizin (hier Fetotomien genannt) noch gängige Praxis.
Katja Lindenmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Medizinsammlung Inselspital Bern
Ackerknecht, Erwin H.: Zur Geschichte der Hebammen, in: Gesnerus 31 3–4, 1974, S. 181-192.
Benedek, Thomas G.: The Changing Relationship between Midwives and Physicians during the Renaissance, in: Bulletin of the History of Medicine 51(4), 1977, S. 550–564.
Dietzel, Joanna/Teufel, Stefan Ken: Wissenschaftliche Aufbereitung des geburtshilflichen Instrumentariums der geburtshilflich-gynäkologischen Sammlung an der Klinik und Poliklinik für Frauenheilkunde und Geburtshilfe der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, 2003 (online ab 2012), <https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:gbv:9-000816-9> [Stand: 28.08.2022].
Filippini, Nadia Maria: Die ‘erste Geburt’. Eine neue Vorstellung vom Fötus und vom Mutterleib (Italien, 18. Jahrhundert), in: Duden, Barbara/Schlumbohm, Jürgen, Veit, Patrice (Hgg.): Geschichte des Ungeborenen. Zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, 17. – 20. Jahrhundert, Göttingen 2002, S. 99–127 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 170).
Schäfer, Daniel: Embryulkie zwischen Mythos, Recht und Medizin. Zur Überlieferungsgeschichte von Sectio in mortua und Embryotomie in Spätantike und Mittelalte, in: Medizinhistorisches Journal 31 (3/4), 1996, S. 275–297.
Sahmland, Irmtraut: Zur Ethik ärztlichen Handelns bei Gebärunvermögen. Johannes Stähelin und sein Plädoyer für die Embryotomie, in: Genserus 58, 2001, S. 308–328.
Seidel, Hans-Christoph: Eine neue «Kultur des Gebärens», Stuttgart 1998 (Medizin, Gesellschaft und Geschichte 11).