Sammlungsgeschichten: Projekt Hüftprothetik
12. Februar 2024
Für welche Objekte interessiert sich die Medizinsammlung und nach welchen Kriterien werden sie ausgewählt? Die Objekte kommen auf unterschiedlichen Wegen: Manchmal werden Objekte auf Dachböden gefunden und angeboten, manchmal stossen Sammlungsmitarbeiter:innen im Inselspital auf ein interessantes Objekt. In anderen Fällen identifiziert die Sammlung Desiderate und arbeitet gezielt am Aufbau eines Bestandes. So geschieht es momentan mit Objekten zur Geschichte der Hüftprothetik.
Die Objekte der Medizinsammlung Inselspital Bern dokumentieren die Entwicklung der klinischen Medizin – insbesondere des 20. Jahrhunderts. Es existieren verschiedene Sammlungsschwerpunkte wie etwa medizintechnische Geräte, chirurgische Instrumente oder Krankenhausmobiliar. Diese Sammlungsschwerpunkte werden auch bei der Sammlungsstrategie berücksichtigt. Objekte werden in die Sammlung aufgenommen, wenn sie Sammlungsschwerpunkte ergänzen, einen Berner Bezug aufweisen, vollständig, in gutem Zustand und ausreichend dokumentiert sind.
Die Objekte aus dem Bereich der Hüftprothetik entsprechen gleich mehreren Kriterien: Sie stärken den bereits bestehenden Sammlungsschwerpunkt Orthopädie, dokumentieren eine der wichtigsten orthopädischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts und sind zudem eng mit dem Orthopäden Maurice E. Müller verbunden, der lange im Inselspital tätig war.
Maurice E. Müller mit einer Bogenschaftprothese mit Metall-Metall-Artikulation, um 1965 (Quelle: Dokumentation Frick)
Die Geschichte der Endoprothetik setzte im späten 19. Jahrhundert ein. Sie war geprägt von einer langen Suche nach der geeigneten Form und Material des Gelenkersatzes, Verankerungsmethoden und Operationstechniken. So scheiterten die frühen Versuche – etwa mit Knieprothesen aus Elfenbein bereits um 1900 oder Hüftprothesen mit Plexiglaskopf in den 1950er Jahren – daran, dass das verwendete Material sich als ungeeignet herausstellte.
Als Durchbruch und Ausgangspunkt für die Etablierung eines funktionellen und zuverlässig wiederholbaren Hüftgelenkersatzes gilt die Arbeit des englischen Chirurgen John Charnley. Er setzte 1958 eine Prothese mit Schaft und Kopf aus Stahl und einer Pfanne aus Polyethylen ein und verankerte sie mit Knochenzement. Charnley war jedoch nicht der einzige, der am Durchbruch der Hüftprothetik arbeitete: In den 1950er Jahren beschäftigten sich Orthopäden an verschiedenen Orten mit der Thematik. So auch der in Biel geborene Maurice E. Müller. Er hatte an der Universitäten Neuenburg, Lausanne und Bern Medizin studiert und 1957 in Orthopädie habilitiert. Sein Interesse an Hüftleiden zeigte sich bereits in seiner Dissertation von 1946. 1950 veröffentlichte er zudem ein Aufsatz über die Prothesen der Pioniere Robert und Jean Judet und Marius Nygaard Smith-Petersen. Dieser gehörte zu den ersten deutschsprachigen Publikationen überhaupt zur Möglichkeit der Implantation von Endoprothesen. Nach Übernahme der Leitung der orthopädisch-traumatologischen Abteilung am Kantonsspital St. Gallen im Jahr 1960, begann Müller selbst mit der Entwicklung eigener Hüftprothesen. Bereits im Dezember desselben Jahres liess er sich von der Firma Mathys erste Prothesen anfertigen – eine Hüfttotalprothese nach Charnley mit einer Teflonpfanne –, die er im Februar 1961 einsetzte. Es folgten eine ganze Reihe von Prothesen- und Instrumentenentwicklungen, für deren Entwicklung und Vertrieb Müller 1967 die Firma Protek gründete. Die Produktion erfolgte in Winterthur bei der Sulzer AG. Auch im Bereich der Hüftprothetik orientierte sich die von Müller ins Leben gerufene Technische Kommission wie bei der Osteosynthese an Leitsätzen: Operationen sollten einfach planbar sein, mit zuverlässigen Instrumenten durchgeführt werden, der Operationsablauf standardisiert, Problemlösungen bei möglichen Komplikationen vorbereitet und Ergebnisse – auch schlechte – sauber dokumentiert werden. Zahlreiche orthopädisch wie auch kommerziell erfolgreiche Prothesen und Instrumente folgten: etwa die Polyaethylenpfanne (1963), die Setzholzprothese (1964/65), die Bogenschaftprothese (1966) und die Geradschaftsprothese (1977). Auch standardisierte Operationsabläufe und auf die Bedürfnisse eigens zugeschnittene Instrumentensets trugen mit dazu bei, dass das Einsetzen von Hüftprothesen zu einer Routineoperation wurde und zahlreichen Patient:innen Bewegungsfreiheit und Lebensqualität zurückgab. Die vielfältige Geschichte der Hüftprothetik in der Schweiz ist also nicht nur die Geschichte der Etablierung einer orthopädischen Behandlung, sondern auch Teil der Schweizer Industriegeschichte.
Entwicklung der Hüftschäfte von Maurice E. Müller (Quelle: Dokumentation Frick)
Bei der Vorbereitung zur Gedenkfeier zum 100. Geburtstag von Maurice E. Müller wurde deutlich, dass die Geschichte der Hüftendoprothetik – trotz ihrer offensichtlichen Relevanz – nirgends systematisch dokumentiert war. Der langjährige Leiter der orthopädischen Klinik Liestal, Peter Ochsner, initiierte deshalb Ende 2019 gemeinsam mit der Medizinsammlung Inselspital Bern und dem Institut für Medizingeschichte der Universität Bern ein Projekt zur Sammlung von Objekten und Dokumentation zur Hüftendoprothetik.
Die Suche begann mit Hindernissen: Müllers persönliche Sammlung, die von seinem letzten Assistenten, Peter Koch, aufgearbeitet worden und im wissenschaftlichen Büro im Maurice E. Müller-Haus untergebracht war, liess sich nicht mehr auffinden. Peter Ochsner, selbst ehemaliges Mitglied der Technischen Kommission, erstellte eine Liste mit Angehörigen, ehemaligen Mitarbeitenden, Wegbegleiterinnen und Freunden, die möglicherweise im Besitz von Objekten wären. Mit Erfolg – mehrere Donatorinnen und Donatoren stellten Objekte und Dokumente zur Verfügung. So übergaben etwa der ehemalige Protek-Mitarbeiter Willi Frick, der langjährige Mechaniker von Maurice E. Müller, Jürg Küffer, der letzte Assistent Müllers, Peter Koch (†) ihre persönlichen Sammlungen. Insgesamt konnte die Medizinsammlung so mehr als 500 Objekte sowie für die Erschliessung wertvolle Kataloge, Protokolle und Publikationen übernehmen. Dabei erlauben Entwicklungsstufen – vom Prototypen bis zum kommerziellen Standardprodukt – Einblicke in die Herstellung der verschiedenen Hüftprothesen.
Das Inventarisieren – also die Erfassung von Objekten in einer Datenbank – gehört zu den zentralen Aufgaben einer Sammlung. Dieser Prozess geht über die blosse Beschreibung hinaus. Denn viele Objekte sind ohne zusätzlichen Informationen zur Entwicklung, Verwendung und Kontexten für Laien kaum verständlich. Im Falle des Hüftprothesenprojekts konnte Wissen aus unterschiedlichen Quellen gesichert und in die Datenbank integriert werden. Zunächst stellte einer der Donatoren, der langjährige Protek-Mitarbeiter Willi Frick, seine Expertise zur Verfügung und half bei der Erfassung. Falls vorhanden, wurden Katalogeinträge, aber auch Pläne, Skizzen, Publikationen und Protokolle mit den Datenbankeinträgen verknüpft und als digitale wie auch analoge Erschliessungsakten aufbewahrt. Derzeit werden auch beispielhafte, mit Röntgenbildern illustrierte, klinische Fälle ausgewählt, um so auch die Perspektive der orthopädischen Anwendung zu dokumentieren.
Aufbewahrung der inventarisierten Sammlungsobjekte
Auszug aus dem Datenbankeintrag ein Müller-Totalhüftprothese
Die effizient voranschreitende und äusserst detaillierte Inventarisierung war und ist nur dank der Unterstützung zahlreicher Beteiligter möglich. So auch durch die freiwilligen Mitarbeiter:innen Olivia Sinon und Rolf Zimmermann. Zudem konnte dank einer Spende von Janine Aebi-Müller temporär die Stelle der Sammlungsmitarbeiterin Anouk Urwyler um 50 Prozent aufgestockt werden.
Gerahmt wurde der Inventarisierungsprozess durch ein weiteres Projekt, das das Institut für Medizingeschichte der Universität Bern unter Leitung von Prof. Dr. Hubert Steinke initiierte und das sich an den Witness Seminars des Wellcome Trusts orientierte. Der erfahrene (Medizin-)Historiker Niklaus Ingold führte Einzelinterviews und im November 2921 ein grosses Zeitzeugenseminar mit 13 Teilnehmer:innen durch (Ueli Aebi, Hans Ulrich Albrecht, Willi Frick, Reinhold Ganz, Jakob Roland, Dora Kaufmann, Robert Mathys, Peter Ochsner, Hans Riesen, Edith Röösli, Erich Schneider, Lotti Schwendener und Hermann Taaks). Geplant ist eine Veröffentlichung des Transkripts – es soll als Quellengrundlage für eine vertiefte, wissenschaftliche Bearbeitung des Themas dienen.
Das Projekt ist auf gutem Weg und die Mehrheit der Objekte bereits erfasst. Es gilt nun die Inventarisierung der vorhandenen Objekte abzuschliessen und gezielt Lücken zu schliessen. Dazu gehört auch, dass der Fokus auf Maurice E. Müller und Protek um beispielhafte „Konkurrenzprodukte“ erweitert wird.
Das Projekt soll zudem über das Sammeln und Aufbewahren hinausgehen und sowohl Forschen wie auch Vermitteln miteinbeziehen: Eine (digitale) Sonderausstellung zur Geschichte der Hüftendoprothetik ist angedacht. So soll ausgehend von konkreten Objekten, Wissen über Geschichte und Gegenwart der Prothetik einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Zudem besteht mittelfristig das Ziel, diese gute Basis an Sach- und schriftlichen Quellen für eine historische Aufarbeitung des vielschichtigen Themenkomplexes zu nutzen.
Um die Inventarisierung und Erschliessung erfolgreich und zeitnah abschliessen und auch die Vermittlungsangebote angehen zu können, wird derzeit an der weiteren Finanzierung gearbeitet.