Sammlungeschichten: Meisterwurz
23. Februar 2025
Das Institut für Medizingeschichte der Universität Bern betreut neben der Inselspital-Sammlung unter anderem auch eine pharmakognostische Sammlung mit beinahe 2500 inventarisierten Rohstoffdrogen. Der Aufbau dieser Sammlungen ab 1860 ist eng verknüpft mit der Verwissenschaftlichung und Professionalisierung des Apothekerwesens. Bis in die 1930er-Jahre hinein ist die Sammlung zentral für die Ausbildung und Forschung der angehenden Pharmazeuten. Danach wird die pharmazeutische Ausbildung neu ausgerichtet, da sich die industriell hergestellten Medikamente durchzusetzen beginnen und sich das Berufsbild der Apotheker:innen wandelt – von Produzent:innen von Heilmitteln zu wissenschaftlich ausgebildeten Berater:innen. Damit verliert die Pharmakognosie ihren Status als «Königsdisziplin» der Pharmazie, und eine umfassende Lehrsammlung erscheint nun überflüssig. Heute ist von den 60'000 Objekten nur noch ein Bruchteil erhalten, aber der Kern der Sammlung besteht weiterhin.
Beinahe 25 Jahre nach der Schliessung des Pharmazeutischen Instituts in Bern kann seit 2020 an der Universität Bern wieder das vollständige pharmazeutische Studium absolviert werden. Damit steigen auch die Chancen, dass in Zukunft historische Drogen wie das Berner Opium verstärkt in die Lehre integriert werden. Zwar nicht mehr als zentraler Bestandteil der Ausbildung wie um 1900, aber zumindest als bedeutende Zeugnisse der Geschichte des Fachs. Zudem gibt es wieder Studierende, die sich für die Geschichte der Pharmazie interessieren. Patrizia Guida beispielsweise hat eine Masterarbeit geschrieben, in der sie sich mit der Geschichte von Meisterwurz beschäftigt. Lesen Sie im Folgenden, wie und zu welchen Zeiten die Heilpflanze Meisterwurz eingesetzt wird und was sich die gegenwärtige Pharmazie davon erhofft.
Pharmakognostische Sammlung Bern (Quelle: Institut für Medizingeschichte)
Die Geschichte der Medizin und Pharmazie ist reich an empirischem Wissen über Heilpflanzen, denen bedeutende Heilkräfte zugeschrieben und zur Behandlung verschiedener Krankheiten eingesetzt wurden. Solche Pflanzen – so die Hoffnung – können auch den Weg zu zukünftigen medizinischen Entdeckungen ebnen und bei der Entwicklung neuer Medikamente helfen. Besonders bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Meisterwurz (Peucedanum ostruthium), die seit Jahrhunderten in den Alpenregionen wegen ihrer heilenden Eigenschaften geschätzt wird. In ihrer Masterarbeit hat sich Patrizia Guida detailliert mit der historischen und modernen Bedeutung der Meisterwurz – vom 16. Jahrhundert bis in die Gegenwart – auseinandergesetzt. Sie untersuchte ihre Rolle als Heilpflanze in der Geschichte, ihre vielfältigen Anwendungsgebiete in der traditionellen Medizin und beleuchte aktuelle wissenschaftliche Ansätze zur Erforschung ihrer medizinischen Eigenschaften. Da diese Alpenheilpflanze heute kaum noch bekannt ist, könnte ihr früher geschätzter Wert im modernen medizinischen Kontext neu entdeckt und genutzt werden.
Meisterwurz – eine Heilpflanze mit jahrhundertealter Tradition. (Quelle: Wikimedia Commons)
Das überlieferte Wissen zur Meisterwurz reicht bis ins antike Griechenland zurück und erstreckt sich vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Im Laufe der Geschichte werden der Meisterwurz zahlreiche heilende Eigenschaften zugeschrieben. Besonders im 16., 17. und 18. Jahrhundert erlebt die Pflanze als Heilmittel eine «Blütezeit» und wird intensiv beworben. Ihre Anwendungsgebiete sind äusserst vielfältig und entwickeln sich kontinuierlich weiter, parallel zu den Fortschritten in Medizin und Pharmazie. Bis ins 18. Jahrhundert erweitert sich das Spektrum ihrer Anwendungen erheblich. Die Meisterwurz gilt als wahres «Allheilmittel» und wird entsprechend vielseitig eingesetzt. Sowohl die Wurzel als auch das Kraut finden Verwendung in verschiedenen Zubereitungen wie Elixieren, destillierten Ölen, Wässern, Pillen, Aufgüssen, Essenzen, Extrakten und anderen Präparaten. Auch Samen und Stängel der Pflanze werden teilweise genutzt.
Die heilende Wirkung der Meisterwurz wird im Kontext der Humoralpathologie interpretiert, einer medizinischen Lehre, die bis ins 18. Jahrhundert vorherrschend ist. Diese Theorie beruht auf den vier Körpersäften – Blut, Schleim, gelbe Galle und schwarze Galle – und stellt Gesundheit als das Gleichgewicht dieser Säfte dar. Krankheiten gelten als Folge eines Ungleichgewichts.
Viele Arzneibücher des 16., 17. und 18. Jahrhunderts beschreiben die Meisterwurz als «hitzig», «scharf» und «wasseraustreibend». Auf der Grundlage der Humoralpathologie verwenden Ärzte die Meisterwurz gerne gegen «kühle» und «feuchte» Erkrankungen wie Erkältungen oder Verdauungsprobleme. Ihre wärmenden und trocknenden Eigenschaften gelten als besonders wirksam, um Körpersäfte auszuleiten und so ein Säftegleichgewicht wiederherzustellen.
Peucedanum ostruthium aus dem Herbar des deutschen Botanikers und Mediziners Wilhelm Daniel Joseph Koch (1771 – 1849) (Quelle: Naturalis Biodiversity Center, Netherlands)
Nach dem 18. Jahrhundert verliert die Meisterwurz allmählich an Bedeutung. Das Kraut verschwindet weitgehend aus der Anwendung, und die Wurzel ist nur noch als Pulverpräparat erhältlich. In der Humanmedizin gerät sie zunehmend in Vergessenheit und findet, wenn überhaupt, nur noch in der Veterinärmedizin Verwendung. Die Pflanze, die einst als «Allheilmittel», «Meisterin unter den Kräutern» oder «Wurzel aller Wurzeln» bekannt ist, verschwindet aus den gängigen Arzneibüchern und wird kaum noch genutzt.
In der Arbeit werden mögliche Gründe für das Verschwinden der Meisterwurz aus der medizinischen Anwendung erörtert. So stammt das überlieferte Wissen über die Meisterwurz aus einer Zeit, in der die Humoralpathologie das medizinische Denken dominiert. Dieses traditionelle Wissen ist nicht kompatibel mit der modernen Medizin, die sich im 19. Jahrhundert auf den Grundlagen der Naturwissenschaften etabliert.
Heute existieren zwar einige Studien zu den Inhaltsstoffen der Meisterwurz, es fehlt jedoch weiterhin an umfassenden Untersuchungen, die die Wirkung der Pflanze als Ganzes beleuchten. Die Durchführung solcher Studien wird durch die komplexe chemische Zusammensetzung und das breite Anwendungsspektrum der Meisterwurz erheblich erschwert.
Peucedanum Ostruthium in einer Publikation des 19. Jahrhunderts (Quelle: Royal Botanic Garden of Madrid / https://www.europeana.eu/item/165/https___bibdigital_rjb_csic_es_idviewer_10420_234)
Im 20. und 21. Jahrhundert wird die Meisterwurz zwar gelegentlich für ihre früheren heilenden Eigenschaften erwähnt, doch ihre Anwendung ist selten. Laut den einschlägigen Nachschlagewerken PharmaWiki und Compendium sind derzeit nur zwei offizielle Pflanzenmischungen sowie ein Homöopathikum erhältlich, die Meisterwurz enthalten. Monopräparate wie die Urtinktur des Herstellers CERES und getrocknete Pflanzenteile sind in wenigen Apotheken noch verfügbar. Gleichzeitig gewinnen in jüngster Zeit Studien zu den Inhaltsstoffen der Meisterwurz an Bedeutung. Diese Untersuchungen liefern beeindruckende und vielversprechende Ergebnisse, die das Potenzial der Pflanze wieder in den Fokus rücken.
Die Meisterwurz enthält eine Vielzahl pharmazeutisch relevanter Inhaltsstoffe, darunter ätherische Öle und Cumarine. Einige Studien weisen auf das beträchtliche Potenzial dieser Substanzen hin, insbesondere in Bezug auf ihre entzündungshemmenden, wundheilenden und antibiotischen Eigenschaften. Auch die historischen Anwendungsgebiete der Pflanze könnten wieder an Bedeutung gewinnen. Ihre Heilkräfte wurden in der Vergangenheit von zahlreichen Medizinern, Apothekern und Botanikern anerkannt und bestätigt. Moderne Studien untermauern diese historische Heilwirkung teilweise, zeigen jedoch nur einen Bruchteil ihres Potenzials auf.
Weitere Forschungen sind notwendig, um das vollständige Spektrum der Heilwirkungen zu erfassen. Die lange empirische Tradition der Meisterwurz belegt ihre Anwendung bei über 50 verschiedenen Krankheitsbildern, wobei Verdauungsstörungen und Erkältungen zu den Hauptanwendungsbereichen zählten. Patrizia Guida schlägt in ihrer Arbeit vor, dieses wertvolle Erbe zu nutzen und in der heutigen Medizin erneut zu berücksichtigen. Sie formuliert konkrete Vorschläge, wie die Meisterwurz gegenwärtig genutzt werden könnte und in welcher Form – beispielsweise als Wundsalbe – sie sinnvoll eingesetzt werden könnte. Damit verknüpft sie die historischen Anwendungen mit den Ergebnissen aktueller Forschung und betont die potenzielle Rolle der Meisterwurz für die moderne Medizin.
So zahlreich wie die Stängelchen ihrer Doldenblüte sind Wirkungen und Anwendungsgebiete der Meisterwurz (Quelle: Wikimedia Commons)
Guida, Patrizia: Meisterwurz – historische Tradition als Quelle für neue Heilmittel. Masterarbeit an der Universität Bern; 2024